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„Der Kolonialismus ist heute noch fühlbar“

Von der Black-Lives-Matter-Bewegung bis zum Umgang mit Migration: Die digitale Plattform „Affect and ColonialismWeb Lab“ ist gestartet

28.09.2021

Bis in die Gegenwart wirksam. Jonas Bens und Débora Medeiros vom Kernteam sprechen über die Ziele der Online-Plattform.

Bis in die Gegenwart wirksam. Jonas Bens und Débora Medeiros vom Kernteam sprechen über die Ziele der Online-Plattform.
Bildquelle: Affective Societies

Der tansanische Anthropologe Laibor Kalanga Moko steht vor einem Tisch, der mit einem weißen Tuch abgedeckt ist. Er zieht den Stoff beiseite und betrachtet die Gegenstände, die darunter versteckt lagen: Er nimmt einen Speer in die Hand, schaut ihn von allen Seiten an, begutachtet dann einen traditionellen Ohrschmuck einer Maasai-Frau. Das Besondere an diesen Szenen: Laibor Kalanga Moko, Doktorand am Sonderforschungsbereich „Affective Societies“, ist selbst Maasai und zum ersten Mal mit den kolonialen Objekten in den Dahlemer Kellerräumen des Ethnologischen Museums konfrontiert, die aus der Region stammen, in der er aufgewachsen ist. Später wird er nach Tansania reisen und die Filmaufnahmen seiner emotionalen Begegnung mit den Gegenständen anderen Maasai vorführen, um wiederum deren Reaktion zu dokumentieren.

Der Kolonialismus hat die Welt strukturiert

Das Video ist eines der ersten, das auf der neuen multimedialen Plattform „Affect and Colonialism Web Lab“ zu sehen ist. Die Seite ist seit einigen Wochen online; gezeigt werden Arbeiten, die sich alle mit derselben Frage beschäftigen: Wie ist der Kolonialismus noch heute im Leben der Menschen fühlbar? Denn der  Kolonialismus hat die Welt nachhaltig strukturiert: „Er ist nicht etwas, das im 16. Jahrhundert begonnen hat und vier Jahrhunderte später überwunden war – der Kolonialismus ist bis in die Gegenwart wirksam“, sagt Jonas Bens.

Der promovierte Kultur- und Sozialanthropologe von der Freien Universität gehört zum wissenschaftlichen Kernteam, das das „Affect and Colonialism Web Lab“ redaktionell betreut. In Podcasts, Videos und in anderen Formaten gehen Forscherinnen und Forscher, Kunst- und Medienschaffende sowie Aktivistinnen und Aktivisten der Frage nach, welche Affekte – also Gefühle und Emotionen, aber auch schwer benennbare Phänomene wie Stimmungen und Atmosphären – der Kolonialismus heute noch in Menschen auslöst.

Sollen Kinderbücher geändert werden, wenn sie rassistische Begriffe enthalten? 

Als Beispiele dafür nennt er Diskussionen um Straßenumbenennungen, den Umgang mit ethnografischen Sammlungen – wie etwa im Humboldt Forum – oder aber die Frage, ob Kinderbücher, die rassistische Begriffe enthalten, geändert werden sollen. „All diese Konflikte lösen sehr starke Emotionen aus: Etwa bei einem Teil der älteren weißen Bevölkerung, der mit bestimmten Begriffen und Lebensweisen aufgewachsen ist, die jahrzehntelang als unproblematisch galten und nun von vielen Jüngeren kritisch hinterfragt werden.“ Global betrachtet stelle sich etwa die Frage, wie die Gesellschaft mit Flucht, Migration oder dem Klimawandel umgeht. „Auch sie sind das Resultat einer ungleichen Weltwirtschaftsordnung, die nach wie vor kolonial strukturiert ist.

Struktureller Rassismus, wie er zum Beispiel in der Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA problematisiert wird, beruht letztendlich auf nicht aufgearbeiteten Fragen des Kolonialismus: Afroamerikanerinnen und -amerikaner, die das Gefühl haben, dass sich ihre Situation seit formalem Kolonialismus und Sklaverei bis heute nicht stark verändert hat – und dass sie immer noch gegen eine Stimmung der ‚White Supremacy‘ – also ,weißer Vorherrschaft‘ – ankämpfen“, sagt Jonas Bens.

Auch Universitäten von kolonialen Strukturen geprägt

Die beim Ideenwettbewerb für internationales Forschungsmarketing 2021 ausgezeichnete Plattform „Affect and Colonialism Web Lab“ soll Menschen weltweit zusammenbringen, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen – und das weit über die wissenschaftliche Arbeit hinaus. Denn auch Universitäten seien wie andere öffentliche Einrichtungen von kolonialen Strukturen geprägt, konstatiert Verena Straub, die wie Jonas Bens der Redaktion des „Web Lab“ angehört. „Das beginnt schon bei der Frage, wer überhaupt Zugang zum Studium erhält, und geht dann über in Fragen, wer lehrt und wer entscheidet, was gelehrt wird“, sagt die Kunst- und Bildhistorikerin.

Auch der geschriebene Text oder das gedruckte Buch als etablierte Form der Wissenskommunikation im akademischen Kontext wolle man mit dem „Web Lab“ überwinden helfen: „Die Plattform soll ein Ort sein, an dem auch mit anderen Formaten und künstlerischen Arbeiten das Thema der Öffentlichkeit vermittelt wird“, sagt Verena Straub. Neben kurzen Videos wie dem von Laibor Kalanga Moko sind bislang drei Folgen des „Affect and Colonialism“-Podcast erschienen; alle zwei bis drei Wochen wird eine neue Podcastfolge online gehen.

Darüber hinaus vergibt das „Web Lab“ digitale Fellowships – also Stipendien –, mit denen jeweils zwei Personen mit unterschiedlichem Hintergrund als Tandem zusammengebracht werden sollen und deren gemeinsame Arbeit nach sechs Monaten mit einer digitalen Ausstellung abschließt: Derzeit arbeiten Jaider Esbell und Luiza Prado als Tandem zusammen, ein brasilianischer indigener Künstler aus BoaVista und eine in Berlin lebende Wissenschaftlerin und Künstlerin aus Brasilien. Ihre digitale Ausstellung, mit der die Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst überwunden werden soll, wird demnächst auf der Plattform zu sehen sein – so wie bereits das Video des Anthropologen Laibor Kalanga Moko.