Hilfsbereit von Anfang an
Der Psychologe Moritz Köster erforscht, warum schon Kleinkinder anderen ihre Hilfe anbieten
28.09.2021
So ein Pech! Der Ball ist dem Mann aus der Hand gefallen und vom Tisch gerollt. Und auch, wenn er sich sehr reckt, kommt er – scheinbar – nicht an den Ball heran.
Ein Kleinkind, das diese Szene beobachtet, wird ziemlich sicher herankrabbeln und dem Mann den Ball reichen. „Prosoziales Hilfeverhalten“ nennen Entwicklungspsychologen das, was sich bereits bei Kindern im zweiten Lebensjahr zeigt. Moritz Köster ist promovierter Psychologe. Er forscht und lehrt am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin.
Verschiedene Erkenntnisdeutungen
Als vor rund 15 Jahren Michael Tomasello und Felix Warneken am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie feststellten, dass nicht nur Kleinkinder, sondern auch junge Schimpansen Artgenossen helfen, ging ein Raunen durch die Wissenschaft. Dies wurde so gedeutet, dass Kleinkinder und Menschenaffen von Natur aus altruistisch sind. Selbstlos andere zu unterstützen, galt bislang als typisch menschliche Eigenschaft, die ein Kind, das angeblich egoistisch und selbstbezogen auf die Welt kommt, erst lernen müsse. Und nun zeigten auch andere Primaten ein solches Verhalten. Das konnte nur in den Genen liegen und musste angeboren sein, folgerten einige Wissenschaftler.
Doch ist es wirklich Altruismus, wenn es sich schon so früh im Leben zeigt? „Eine alternative Erklärung wäre, dass Kinder gerne spielen und den Ball zurückgeben“, sagt Moritz Köster. „Oder sie verstehen, dass ein Objekt in eine Hand gehört, und legen den Ball wieder zurück in die ausgestreckte Hand, ohne zu erkennen, dass der andere ein Bedürfnis danach hat.“
Von einem Verhalten nicht auf Motive schließen
Der Psychologe unterscheidet klar zwischen Altruismus und prosozialem Verhalten. „Hinter Altruismus steht die Annahme, dass jemand einem anderen Gutes tut, ohne selbst einen Vorteil davon zu haben. Prosoziales Verhalten ist erst einmal nur eine Verhaltensweise – mehr nicht.“ Aus seinen Studien zieht Köster den Schluss, dass sich von einem Verhalten nicht direkt auf die zugrunde liegenden Motive schließen lässt. Sondern dass es bereits sehr früh das Resultat und Zusammenspiel komplexer Entwicklungsprozesse ist.
Welche Prozesse sind das? Dazu sah Köster sich an, wie Eltern in verschiedenen Kulturen Aufgaben an ihre Kinder übertragen – und fand große Unterschiede. Im ländlichen Amazonasgebiet etwa reden Mütter sehr insistierend und bestimmend auf ihre Kinder ein: „Nimm dies und tu das bitte dorthin.“ Im städtischen Deutschland, etwa in Münster, hingegen laufe es anders. „Die Mütter bitten ihre Kinder im fragenden Ton und geben Erklärungen ab“, erläutert Moritz Köster. Das decke sich damit, dass Kinder, anders als in Deutschland, am Amazonas schon sehr früh in Haushaltsaufgaben einbezogen werden und somit lernen, dass ihre Hilfe gebraucht wird.
Unterschiedliche Erziehungsstile beeinflussen demnach schon früh das Hilfeverhalten. „Kultur hat offenbar bereits bei Eineinhalbjährigen einen Einfluss – was eher dagegen spricht, dass prosoziales Verhalten eine rein angeborene Fähigkeit ist.“ Moritz Köster wollte nun mit seinen Kolleginnen und Kollegen der Universität Münster wissen, ob Kleinkinder sozial lernen, also imitieren, was andere ihnen vormachen. „Erhöht es die Wahrscheinlichkeit, dass sie helfen, wenn sie sehen, dass es jemand anderes macht? Und das tut es, auch schon sehr früh im zweiten Lebensjahr, wenn Kleinkinder gerade beginnen anderen zu helfen.“
Frühe Entwicklung von Verständnis
Interessanterweise lässt sich am Blickverhalten der Kinder erkennen, dass sie bereits verstehen, dass der andere bei etwas Hilfe braucht, bevor sie helfen. „Sie verstehen es sogar schon im ersten Lebensjahr. Im zweiten Jahr helfen sie dann tatsächlich. Das Verständnis über die Hilfsbedürftigkeit anderer entwickelt sich also schon vor dem prosozialen Verhalten.“
Im ersten Lebensjahr entwickelt sich die Motorik von Kindern kräftig – sie beginnen zu laufen und werden feinmotorisch kompetenter, sodass sie dann auch in der Lage sind, anderen tatsächlich zu helfen. Diese vielseitigen Befunde zeigen also: „Auch, wenn es ein simples Verhalten zu sein scheint, einen Ball zu reichen, liegt dem ein komplexes Zusammenspiel von Entwicklungsprozessen zugrunde“, betont der Psychologe.
Um diese Entwicklungsprozesse noch genauer zu erforschen, betrachtet Moritz Köster derzeit gemeinsam mit seiner Kollegin Claudia Buss, Professorin für medizinische Psychologie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, den Zusammenhang zwischen frühem Hilfeverhalten von Kleinkindern, ihrer Gehirnentwicklung, Genetik und Umwelteinflüssen. Unter anderem mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie von Neugeborenen und Einjährigen, DNA-Proben von Säuglingen und Verhaltensbeobachtungen der Mutter-Kind-Interaktion im Alter von einigen Wochen bis ins zweite Lebensjahr.
Können Eltern eigentlich etwas tun, um das prosoziale Verhalten ihrer Sprösslinge zu unterstützen? „Ja, indem sie sich bewusst machen, dass Kinder schon sehr früh sehr viel lernen und ihnen beibringen, was sie selbst für wichtig halten. Denn so wird der Grundstein dafür gelegt, wie wir später die Gesellschaft und unsere Rolle darin sehen“, sagt Moritz Köster, „und das Faszinierende am Menschen ist, dass dies von Kultur zu Kultur und von Familie zu Familie ganz unterschiedlich sein kann.“