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Was Einladungen erzählen

Ein Forschungsprojekt der Freien Universität Berlin, der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und des Hauses der Kulturen der Welt macht das Archiv der Avantgarden erlebbar

28.09.2021

Hut als Kunstwerk. Diese Einladung zu einer Ausstellung von 1962 bis 1972 in London stammt vom französischen Künstler Robert Filliou.

Hut als Kunstwerk. Diese Einladung zu einer Ausstellung von 1962 bis 1972 in London stammt vom französischen Künstler Robert Filliou.
Bildquelle: Archiv der Avantgarden

Rund 1,5 Millionen Objekte umfasst das Archiv der Avantgarden (AdA), das Egidio Marzona seit den 1960er Jahren aufbaute. Der deutsch-italienische Galerist erwarb etwa Objekte von Marcel Duchamp, Joseph Beuys oder Alison Knowles. Rudolf Fischer und Marcelo Rezende, die Leiter des AdA, nennen es ein „wildes Archiv“. Denn Egidio Marzona sammelte nicht nur Kunstwerke und Designobjekte, sondern auch Architekturpläne, Zeichnungen, Plakate und teilweise beliebig erscheinende Schriftzeugnisse der Protagonistinnen und Protagonisten der Avantgarde. Zusätzlich dazu erstand er Nachlässe von Künstlern und Kunstwissenschaftlern. Den Großteil seiner umfangreichen Sammlung stiftete er 2016 den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, wo zurzeit eine neue Kunstinstitution speziell für das AdA und mehrere kuratorische Konzepte entstehen.

Ein besonderes Archiv erlebbar machen

„Wir wollten dieses besondere, noch ungeordnete Archiv erlebbar machen und die Hemmschwelle senken, sich als Besucherin oder Besucher überhaupt mit einem Archiv zu beschäftigen“, sagt Annette Jael Lehmann, Professorin für Kultur und Medienmanagement an der Freien Universität, über die ersten Überlegungen zu einem Forschungs- und Ausstellungsprojekt.

Gemeinsam mit den anderen Projektkoordinatoren aus dem Haus der Kulturen der Welt Berlin (HKW) und den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden sei die Idee entstanden, Interessierte auf eine ganz besondere Weise ins AdA einzuladen: „Invitations – Archiv als Ereignis“ stellt 100 Einladungskarten zu Kunstereignissen des 20. Jahrhunderts vor, die sich in Egidio Marzonas Sammlung befinden.

Die Einladungen erschienen den Kuratorinnen und Kuratoren zunächst nur als flüchtige Begleitdokumente der Ausstellungen, Performances oder Aktionen, zu denen sie einst die Gäste baten, sagt Annette Jael Lehmann. „Sie lassen sich aber wunderbar nutzen als Knotenpunkte für die Positionen und Visionen der Avantgarden und für deren Netzwerke“, betont die Leiterin des Seminars für Kultur- und Medienmanagement der Freien Universität.

„Invitations – Archiv als Ereignis“ ist Teil des Forschungsprojekts „Das ganze Leben: Ein Archiv Projekt“ des HKW, das Teil des Großprojekts „Das Neue Alphabet“ ist, gefördert von der Bundesministerin für Kultur und Medien. Dieses will laut Eigenbeschreibung die „Vielfalt von Sprachen, Schriften, Wissensproduktionen und Lernweisen jenseits der universellen Matrix eines einzigen Alphabets“ neu denken. „Egidio Marzonas Sammlung eröffnet einen wirklich eigenwilligen Einblick in die neuere Kunstgeschichte“, so beschreibt die promovierte Kunstwissenschaftlerin Anna-Lena Werner, die die kuratorische Leitung für „Invitations – Archiv als Ereignis“ übernommen hat. „Dabei findet sich alles von einer kontextlosen Unterschrift von Robert Rauschenberg über Künstler-Korrespondenzen bis hin zu ausstellungsplanerischen Dokumenten von Fluxus oder Bauhaus.“

Auch die Herangehensweise musste erst geübt werden

Ein Jahr lang seien sie und ihre Kollegin Helene Romakin mehrmals wöchentlich im AdA gewesen, um dieses zu sichten, zunächst mit einer chronologischen Herangehensweise. Das habe nicht funktioniert, da Egidio Marzona das Archiv mit individuellen Methoden und eigentlich nur für sich selbst angelegt und sortiert habe. In einem biografischen Ordner sei etwa ein Brief der Performance-Künstlerin Gina Pane gewesen; das Antwortschreiben habe sich in einem Karton zur Body Art befunden, erläutert Anna-Lena Werner ihre „quasi archäologische Arbeit“ im AdA. Sie hätte sich nicht, wie sonst in Archiven üblich, in einen Sichtungssaal bestimmte Dokumente bestellen, sondern frei in allen Sammelmappen stöbern können. „Wie bei einer Probebohrung konnte ich irgendwo hineingreifen und schauen, zu welcher Avantgardeströmung oder welchen anderen Künstlerinnen und Künstlern mich das führt.“

Deshalb seien die Einladungskarten, diese 100 Stichproben, eine „perfekte Metapher“ für die Herausforderung, einen Anfangspunkt für die archivarische Ordnung des AdA zu finden, meint die kuratorische Leiterin des Forschungsprojekts. Als Ausgangspunkte zeigten die Einladungen nicht nur, wer wozu einlädt, sondern auch, wer geladen wird. Dazu fänden sich im AdA oft passende Presseberichte und Rezensionen zum Kunstereignis, Videoaufzeichnungen oder Fotomaterial, persönliche Korrespondenzen zur Planung des Events.

Ein lebendiges Archivmodell

„Die Künstlerinnen und Künstler erscheinen auf diese Weise viel menschlicher als in respektiven Kunstausstellungen“, sagt Anna Lena Werner. Die zwischenmenschlichen Beziehungen seien das entscheidende Element für die Avantgarden gewesen, ist sich die Kulturwissenschaftlerin sicher; und die große Stärke des AdA sei es, diese Relationen sichtbar zu machen. Robert Filliou etwa ist ein Künstler, den Anna-Lena Werner im Zuge ihrer Archivarbeit für sich entdeckt hat. Der französische Künstler der Fluxus-Strömung – einer antielitären, auf experimentelle Performances und intermediale Kunst fokussierten Bewegung – ist im AdA unter anderem mit einem zweidimensionalen Filzhut vertreten: Eine interaktive Einladung für „The Misfits Fair: The Frozen Exhibition (Defrosting The Frozen Exhibition)“, die von 1962 bis 1972 in London stattfand. Der Hut ist dabei selbst das Kunstwerk, befüllt in einem Papierschlitz mit kleinen Kunstwerken von Filliou und sechs Zeitgenossen. Zehn Jahre befanden sich diese im Hut, den der Künstler in einem Plastikbeutel bildhaft ,einfror‘; dann stellte eine britische Galerie das humoristische Artefakt aus.

Für die „Ausstellung des Staatlichen Bauhauses Weimar: Kunst und Technik – Eine neue Einheit (1923)“ dagegen wurden sowohl von Lehrenden als auch von Studierenden 20 verschiedene Einladungen entworfen. Darunter eine kubistische Zeichnung, geschaffen von Paul Klee, die im AdA erhalten ist. „Diese Einladungskarte kann die Betrachtenden zum Bauhaus-Manifest führen und zu der Positionierung, Kunst und Industrie vereinen zu wollen, die das 20. Jahrhundert geprägt hat“, erläutert Annette Jael Lehmann. „Die Einladungen wirken wie Zeitkapseln, man kann von Karte zu Karte springen, und jede eröffnet einen neuen Erlebnisraum.“ So wird man etwa dazu eingeladen nachzulesen, in welchen soziopolitischen Umständen das Ereignis stand, wer sich dort getroffen, angefreundet oder gestritten hat und ob daraus Gruppierungen oder gar Bewegungen entstanden sind. Oder darüber nachzudenken, wie man das Kunstevent aus der heutigen Perspektive wahrnimmt.

„Wir vertreten ein lebendiges Archivmodell“, betont die Kulturwissenschaftlerin. „Invitations“ ist deshalb auch wortwörtlich eine Einladung für die vielen Beteiligten, sich mit dem AdA aus verschiedenen Blickwinkeln zu beschäftigen. Im Rahmen des Praxisseminars „Archiv als Ereignis“, das Annette Jael Lehmann am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität anbot, recherchierten und verfassten Studierende Texte zu den Einladungskarten. Es seien dabei persönliche Assoziationen, aber auch kritische Kontextualisierungen entstanden, resümiert sie. Nicht mehr umgesetzt werden konnten aufgrund der Corona-Pandemie eine geplante Ausstellung im HKW sowie eine Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Brasilien zur nichteuropäischen Interpretation der Einladungen.

Querverbindungen zwischen den Strömungen

Die Endprodukte von „Invitations – Archiv als Ereignis“ sind ein zweisprachiger Sammelband und eine Website: Die Homepage präsentiert die ausgewählten Einladungskarten aus den Jahren 1910 bis 1994 und kurzes Begleitmaterial. Die 100 Dokumente sind mit assoziativen Links wie „Activism & Politics“, „Audience & Event“ oder „Female Empowerment“ versehen. „So wollten wir vermeiden, dass man die Avantgarden immer nur auf einem Zeitstrahl und in den bekannten ‚ismen‘ denkt, also Surrealismus oder Dadaismus. Es sollten auch die Querverbindungen wahrnehmbar werden“, erklärt Anna-Lena Werner. Auf einer Mind-Map aller Einladungskarten kann man diese zusätzlich chronologisch oder sortiert nach Kategorien wie Ort, Strömung oder Genre entdecken.

Die im Januar 2022 erscheinende Publikation „Invitation – Archive as Event“ mit Texten der Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Künstlerinnen und Künstlern dient nicht nur als Ausstellungskatalog für die Online-Schau. Sie enthält in sechs Kapiteln – die auch nach den Schlagworten der Webseite sortiert sind – Fallstudien, Interviews mit im AdA vertretenen Künstlern oder deren Nachkommen, theoretische Überlegungen zu politischen, ökologischen oder ästhetischen Fragen, die die Einladungen aufwerfen, sowie künstlerische Kommentare. Illustrationen zum Beziehungsgeflecht der Avantgardeströmungen steuerte das Wissenschafts-Design-Labor „metaLAB(at)Harvard“ bei, dem Annette Jael Lehmann angehört.

So werden analog und digital das Archiv der Avantgarden, deren künstlerische Utopien sowie die weitverzweigte Vernetzung der Akteurinnen und Akteure sichtbar – und wiederum durch neue Netzwerke erweitert.