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Ein Kind des Kalten Krieges

Am 24. November 1951 wurde das Osteuropa-Institut der Freien Universität gegründet, Ernst Reuter hielt die Eröffnungsrede. Jetzt feiert das Institut sein 70-jähriges Bestehen mit einer interaktiven Ausstellung im Henry-Ford-Bau

28.09.2021

In den frühen 1960er Jahren. Blick auf das Osteuropa-Institut an der Dahlemer  Garystraße 55; dahinter liegt das Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft. Links verläuft die U-Bahn zum heutigen Bahnhof Freie Universität/Thielplatz.

In den frühen 1960er Jahren. Blick auf das Osteuropa-Institut an der Dahlemer Garystraße 55; dahinter liegt das Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft. Links verläuft die U-Bahn zum heutigen Bahnhof Freie Universität/Thielplatz.
Bildquelle: Reinhard Friedrich/Universitätsarchiv der Freien Universität Berlin

Wenn das Osteuropa-Institut der Freien Universität seinen 70. Geburtstag feiert, wird auch Berlins längst verstorbener ehemaliger Oberbürgermeister Ernst Reuter noch einmal zu Wort kommen. Er war es, der im Jahr 1951 anlässlich der Institutsgründung die Eröffnungsrede hielt, eine „zutiefst bewegende Rede“, wie Gertrud Pickhan betont. Umso erfreuter war die Professorin für Geschichte Ostmitteleuropas deshalb, als sie bei den Recherchen für die Jubiläumsausstellung im Universitätsarchiv auf das Manuskript der Rede Reuters stieß.

Wer im November 2021 einen Ausflug in den lichtdurchfluteten Henry-Ford-Bau unternimmt, wird Reuters Worte selbst nachhören können – und an großen Schautafeln in die Geschichte des Osteuropa-Instituts eintauchen. Er wird Bernhard Steinberg und Siegfried Müller-Markus kennenlernen, die sich beide um eine Stelle im neu gegründeten Dahlemer Institut bewarben: der Eine ein Holocaust-Überlebender, der andere ein ehemaliger Gestapo-Mann.

Ein Institut mit starker Prägung durch Weltkrieg und Kalten Krieg

„Die Zeit des Nationalsozialismus hat nicht nur an unserem Institut noch lange Nachwirkungen gezeigt“, sagt Gertrud Pickhan. Und erklärt dann, warum Ernst Reuters Rede für sie so bedeutend ist: „Ernst Reuter schwärmte für Russland. Er hob hervor, dass man das Regime, das System nicht mit den wunderbaren russischen Menschen in einen Topf werfen dürfe.“ Eine wichtige Botschaft heute wie damals, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und mitten im Kalten Krieg, in einer Stadt wie Berlin, die als eine der ersten Städte bundesweit ein Universitätsinstitut für den Osten Europas und Russland beherbergen sollte.

Mit dem ersten großen Forschungsprojekt richtete man den Blick jedoch nicht direkt nach Osten, sondern über den Atlantik: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den USA kooperierten mit dem Institut in West-Berlin. Gemeinsam wurde der Marxismus-Leninismus erforscht. „Unser Institut ist ein Kind des Kalten Krieges“, sagt Gertrud Pickhan; eine Zusammenarbeit mit Osteuropa war in der Anfangszeit kaum möglich.

Zeitgeschichte: Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt (Mitte) übergibt 1961 den Schlüssel für das neue Gebäude des Osteuropa-Instituts.

Zeitgeschichte: Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt (Mitte) übergibt 1961 den Schlüssel für das neue Gebäude des Osteuropa-Instituts.
Bildquelle: Reinhard Friedrich/Universitätsarchiv der Freien Universität Berlin

Ein schwerer Weg zum freien Austausch

Dennoch war der Wunsch groß, den Eisernen Vorhang zu durchdringen und Osteuropa näher heranzuholen. Ein erster Erfolg stellte sich bereits 1952 ein, ein Jahr nach der Institutsgründung. Mit dem Westinstitut (Instytut Zachodni) im polnischen Posen, das wiederum Deutschland und die deutsch-polnischen Beziehungen in den Fokus nahm, wurde ein Büchertausch vereinbart. Bis dieser tatsächlich anlaufen konnte, vergingen indes noch einige Monate, hatte das Osteuropa-Institut so kurz nach seiner Gründung doch noch keinerlei Publikationen vorgelegt, die es hätte verschicken können.

Später reisten nicht nur Bücher gen Osten, sondern es machten sich auch Studierende auf den Weg. Auf Exkursionen erlebten sie ihr Forschungsfeld hautnah. Ein Meilenstein für das Osteuropa-Institut war dabei das 1968 abgeschlossene und bis heute aktive Austausch-Abkommen mit der Shdanov-Universität in Leningrad, heute die Staatliche Universität Sankt Petersburg.

Die Entwicklung der gesellschaftlichen Systeme Osteuropas und Russlands nach dem Ende des Staatssozialismus begleiteten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Dahlemer Instituts mit einem Graduiertenkolleg, das von 1991 bis 1997 unter Förderung der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) lief. Das sei ein Glück gewesen, betont Gertrud Pickhan. Schließlich war das Institut – wie die gesamte Freie Universität – durch die mit großen Einsparungen einhergehende Umstrukturierung der Berliner Hochschullandschaft nach der Wende in der Krise und musste um seine Daseinsberechtigung kämpfen.

Die Forschungsschwerpunkte am Osteuropa-Institut in den vergangenen Jahrzehnten waren vielfältig, sie sind es auch heute. Das ist auch dem interdisziplinären Ansatz zu verdanken, den das Institut nach dem Abschied vom Magisterstudium im Zuge der Bologna-Reform nun in seinem Masterstudiengang Osteuropastudien fortsetzt. Dabei kooperieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Geschichte, Kultur, Politik, Soziologie und Volkswirtschaft unter einem Dach und ermöglichen so einen umfassenden wie differenzierten Blick auf die Länder Osteuropas und Russland – seit nunmehr 70 Jahren.

Zeitzeugin: Gretchen Dutschke-Klotz spricht mit Studierenden über die Studentenbewegung.

Zeitzeugin: Gretchen Dutschke-Klotz spricht mit Studierenden über die Studentenbewegung.

Von Kooperation geprägt sei auch die Zusammenarbeit für die Jubiläums-Ausstellung gewesen, schwärmt Professorin Gertrud Pickhan. Beschäftigte aller Abteilungen, Studierende sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hätten gemeinsam an einem Tisch gesessen, um ihre gemeinsame Geschichte für eine breite Öffentlichkeit aufzubereiten. Auch die Mitarbeiterinnen der Sekretariate werfen in einem eigenen Themenschwerpunkt einen Blick zurück, um ihre Aufgaben im Wandel der Zeit zu rekapitulieren.

Gemeinsame Ausstellung von Studierenden und Forschenden

Für die Studierenden sei insbesondere der Themenschwerpunkt zur Studentenbewegung der 1960er Jahre spannend gewesen, erzählt Tom-Aaron Aschke. Er ist studentische Hilfskraft in der Abteilung Geschichte des Osteuropa-Instituts und hat die Ausstellung mitkuratiert. „Ein großer Teil und auch Wert der Ausstellung sind die Dokumente, die wir im Universitätsarchiv gefunden haben“, sagt er. Für Tom-Aaron Aschke sei es ein „enormer Lernprozess“ gewesen, sich durch Unterlagen und andere Quellen zu arbeiten und die Fundstücke für die Schautafeln aufzubereiten.

Unterstützung bekamen Tom-Aaron Aschke und weitere Kommilitoninnen und Kommilitonen dabei von der Historikerin und Mit-Kuratorin Alina Bothe. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeitet sie am Osteuropa-Institut derzeit an ihrer Habilitationsschrift. Umfassende Erfahrung mit der visuellen Aufbereitung wissenschaftlicher Forschung hat Alina Bothe bereits: Im Juli 2018 kuratierte sie eine Ausstellung im Centrum Judaicum über den Beginn der Verfolgung polnisch-jüdischer Berlinerinnen und Berliner durch die Nationalsozialisten.

Durch berühmte Persönlichkeiten geprägt

Auf der Schautafel zu den Studentenprotesten um 1968 darf ein Name nicht fehlen: Rudi Dutschke. Der Wortführer der West-Berliner und westdeutschen Studentenbewegung, der bei einem Mordanschlag im April 1968 schwer verletzt wurde, war Hilfskraft in der Abteilung Soziologie am Osteuropa-Institut. Auch seine Frau Gretchen studierte dort. Zwei Studierenden war es möglich, mit der Zeitzeugin Gretchen Dutschke-Klotz ein Gespräch zu führen und so besonders intensive Einblicke in diese turbulenten Jahre zu bekommen.

Tom-Aaron Aschke kann sich gut vorstellen, nach seinem Masterabschluss weitere Ausstellungen zu kuratieren. Für Gertrud Pickhan, die seit 17 Jahren als Professorin in der Abteilung Geschichte des Osteuropa-Instituts lehrt und forscht, steht die Jubiläums-Ausstellung am Ende ihrer Universitätslaufbahn. Die Finissage am 26. November 2021 wird durch ein Symposium aus Anlass ihres Eintritts in den Ruhestand begleitet werden.