Springe direkt zu Inhalt

Chemie-Nobelpreisträger Benjamin List ist Alumnus der Freien Universität Berlin

Ein Gespräch mit dem Chemie-Nobelpreisträger 2021 Benjamin „Ben“ List, der an der Freien Universität Berlin studiert hat

22.02.2022

Chemie-Nobelpreisträger Benjamin List betrachtet ein Molekül Modell.

Im Reich der Moleküle: Chemie-Nobelpreisträger Benjamin List geht am liebsten unkonventionelle Wege, um die Herausforderungen seines Fachs zu lösen.
Bildquelle: David Ausserhofer

San Diego, eines Abends 1999, in einem Labor des Scripps-Instituts: Benjamin List denkt über Enzyme nach, jene hocheffizienten natürlichen Reaktionsbeschleuniger. Sie bestehen nicht nur aus Aminosäuren. Auch an ihrem aktiven Zentrum sitzen nicht selten direkt Amino- und Säuregruppen.

Amino... säure. Was, wenn eine einfache Aminosäure ähnlich gute katalytische Eigenschaften besitzt wie ein komplexes Enzym? Der Chemiker erinnert sich an ein denkwürdiges Detail aus einer Vorlesung: In den 1970er-Jahren hatte einmal jemand erfolgreich Prolin katalytisch eingesetzt. Während er nun selbst diese kleinste natürliche Aminosäure in den Glaskolben gibt, ist Benjamin List unsicher. Ist das vielleicht nur eine seltsame Idee, oder hat es das Potenzial, etwas Großes zu werden?

Am nächsten Morgen war klar: Es funktioniert! Gemeinsam mit dem US-Amerikaner David W. C. MacMillan, der fast zeitgleich Ähnliches gefunden hatte, hatte Ben List damit die „Organische Katalyse“ begründet. Sie vereinfacht heute unter anderem die Synthese von Medikamenten und macht ihre Produktion effizienter und nachhaltiger, weil nun oft auf umwelttoxische, kostspielige Metallkatalysatoren verzichtet werden kann. Nobelpreiswürdig – befand die Jury in Stockholm und verlieh dem Deutschen den Nobelpreis für Chemie, gemeinsam mit David MacMillan.

Wie tickt der Mensch Benjamin List? Und was kommt nach dem Nobelpreis? Der 53-jährige Direktor am Max-Plank-Institut für Kohlenforschung in Mülheim ist mit dem ICE auf dem Heimweg von einem Vortrag, während Catarina Pietschmann mit ihm spricht. Der Wissenschaftler und die Journalistin kennen sich aus gemeinsamen Labortagen Anfang der 1990er-Jahre an der Freien Universität Berlin, weshalb sie sich duzen.

Chemie-Nobelpreisträger Benjamin List hat an der FU Berlin studiert und seinen Abschluss gemacht.

Der Ort, an dem alles begann. Chemie-Nobelpreisträger Benjamin List mit dem Abschluss der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Catarina Pietschmann

Ben, wie hat sich dein Leben nach dem Anruf aus Stockholm verändert?

Es war ziemlich intensiv. Bis Weihnachten hatte ich jeden Tag durchgehend Termine, vor allem mit den Medien. Aber ich will mich gar nicht beklagen. Ich mache das gern und habe Spaß daran gefunden, ein wenig für die Chemie zu werben.

Die Liste deiner Auszeichnungen ist lang, und mit dem Nobelpreis hast du nun die renommierteste erhalten. Tut sich jetzt ein Motivationsloch auf?

Ich beziehe meine Motivation ja nicht aus der Hoffnung auf Preise, sondern ich tue das, weil ich es liebe! Ein paar Tage vor dem Anruf hatten wir im Team ein internationales Dinner. Jeder hat etwas aus seinem Heimatland gekocht. Da hatte ich irgendwann so einen Glücksmoment und dachte: Wow! Das ist der Peak deiner beruflichen Karriere. Ich habe die besten Doktoranden, die ich jemals hatte. Wir haben tolle Projekte, superspannende Kooperationen, aufregende Veröffentlichungen in den besten Journalen. Einfach eine total schöne, produktive Zeit ... Da wurde ich nun erst einmal herausgerissen. Und meine eigentliche Arbeit, die ich so liebe, ist momentan in den Hintergrund gerückt.

Du hast da aber schon einen Punkt. Es ist nur keine Motivationsfrage – eher eine Zäsur. Man überlegt: Willst du weitermachen wie bisher oder noch einmal etwas Neues anfangen? Alle Träume, die ich bezüglich der Organokatalyse hatte, haben sich inzwischen weitestgehend erfüllt. Wir arbeiten bei einigen Reaktionen mit Katalysatorzusätzen im Bereich von ppm, Teile pro Million. Die Katalysatoren sind inzwischen besser als jedes Enzym. Besser als jeder Metallkomplex. Und sie werden technisch eingesetzt.

Hast du schon eine Idee, was ein neues Thema werden könnte?

Zunehmend reizvoll finde ich Dinge, bei denen Grundlagenforschung und angewandte Forschung eins sind. Eine der wichtigsten Aufgaben, die der Menschheit bevorsteht, ist ja, das Kohlendioxid-Aufkommen zu reduzieren. Es direkt aus der Atmosphäre herauszuholen, fände ich cool! Faszinierend wäre, CO2 direkt in Kohlenstoff und Sauerstoff umzuwandeln. Diese Reaktion gibt es bisher noch nicht. Über so etwas denke ich gerade nach.

Alles fing einst an mit deinem Chemiestudium an der Freien Universität Berlin.

Ja, ich wollte unbedingt nach Berlin. 1988 gab es noch kein für alle zugängliches Internet. Also rief ich die Telefon-Auskunft an und fragte nach der Nummer der Berliner Universität. Die Dame vom Amt fragte irritiert: „Welche Uni?“ Und ich sagte: „Keine Ahnung. Suchen Sie bitte eine aus.“ So kam ich an die Freie Universität (lacht). Ich habe es aber nicht bereut!

Welche Erinnerungen hast du an diese Zeit?

Ich habe es geliebt, in Dahlem zu studieren! Wenn ich morgens aus der grauen Großstadt in Berlin-Mitte mit der S-Bahn rausgefahren und am Botanischen Garten ausgestiegen bin, kam ich in eine grüne Oase. Gefühlt war das Wetter in Dahlem immer besser. Der damalige Fachbereich Chemie war gut. Gute Professoren, angefangen bei unserem späteren Doktorvater Johann Mulzer. Aber auch in der Anorganik waren eindrucksvolle Wissenschaftler. Zum Beispiel Konrad Seppelt für Fluorchemie und Wolf Peter Fehlhammer für Metallorganische Chemie.

Heute bist du selbst Professor, hältst zahllose Vorträge und bist Honorarprofessor an der Universität zu Köln. Was hast du aus deinem Studium dafür mitgenommen?

Wenn mich etwas leidenschaftlich interessiert, überträgt sich das auch auf das Auditorium. Johann Mulzer hat das immer toll gemacht. Schritt für Schritt hat er mit farbiger Kreide Reaktionsmechanismen und Synthesewege zu komplexen Naturstoffen aufgezeichnet. Gelassen und ohne Hast. Und ganz beiläufig stellte er Fragen, die irgendwelche Schlaumeier dann beantwortet haben ...

Du hast 1997 über die Synthese des Vitamin-B12-Moleküls promoviert. Totalsynthesen waren damals das Nonplusultra in der Organischen Chemie. Wie siehst du das heute?

Man kann natürlich hinterfragen, ob ein Doktorand fünf Jahre damit verbringen sollte, eine Substanz nachzubauen, die in der Natur ohnehin vorkommt. Aber ich finde es immer noch reizvoll, denn es ist eine Königsdisziplin, an der man die Größe und die Handschrift eines Forschenden erkennt. Für die erste Synthese des Macrolid-Antibiotikums Erythromycin benötigte das Team von Robert B. Woodward 1981 rund 100 Stufen. Zu Zeiten von E. J. Corey waren es nur noch 30 bis 40 Stufen, und im Laufe der Jahre wurden es immer weniger. Das zeigt, wie stark sich die chemische Synthese verbessert hat und wie sich das auswirkt – auf die Eleganz, Effizienz und Länge der Synthesen.

Inzwischen bist du selbst vielfacher Doktorvater. Du scheinst der Prototyp des modernen Teamleiters zu sein: nahbar, kreativ und empathisch zugleich. Was hast du von deinem Doktorvater übernommen und was machst du anders?

Johann Mulzer hat uns nie massiv gecoacht. Sein „Hands off“-Management habe ich ein bisschen übernommen. Aber ich bin immer da, und meine Tür steht immer offen. Ich gehe viel durch das Labor und rede mit den Leuten. Dabei ist mir bewusst, dass es einen Grund hat, dass es „Doktorvater“ heißt. Denn es ist auch eine Verbindung für das Leben. Es ist wie mit der Verwandtschaft: Du kannst dich über sie ärgern, nicht mehr mit ihnen reden wollen. Aber am Ende sind sie immer noch da.

Mir ist wichtig, dass meine Leute keine reinen Katalyse-Forscherinnen und -Forscher werden, sondern komplette chemische Synthese-Experten. Das stelle ich durch etwas sicher, was ich bei Johann Mulzer gelernt habe – Denksportaufgaben, die es jeden Mittwoch im Seminar gibt. Das gleiche „Format“ wie früher: Jemand skizziert partiell eine Naturstoffsynthese, die kürzlich publiziert wurde, und das Team muss dann die fehlenden Schritte herausfinden. Nur fische ich mir nicht jemanden raus, der oder die dann „lösen“ muss. Wir machen es heute kooperativer.

Chemie-Nobelpreisträger Benjamin List und sein Team überprüfen ein Paper.

Teamplayer. Chemie-Nobelpreisträger Benjamin List vermittelt in seiner Arbeitsgruppe Begeisterung für sein Fach.

In jeder Doktorarbeit kann irgendwann der Punkt kommen, an dem es nicht weitergehen will. Wie schaffst du es, deine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu motivieren?

Schwierigkeiten sind ja im Grunde etwas Wertvolles. Am Ende lernen alle etwas dabei und werden besser. Sorgen mache ich mir eher, wenn jemand kommt und nach 14 Tagen schon sein Projekt komplett durchdacht hat. Solche Leute demotivieren sich dann mitunter selbst. Wenn es wirklich hakt, führen wir lange Gespräche, und ich zeige Perspektiven auf: Was hast du geschafft, wenn du jetzt durchhältst? Vielleicht wird ein tolles Paper in „Science“ daraus? Du hast etwas Cooles entdeckt, bekommst vielleicht ein Patent darauf. Das wird dein Ticket! Nutze die Zeit, häng dich jetzt rein! Ganz im Ernst – lieber am Anfang enthusiastisch arbeiten und leidenschaftlich alles geben, ist meine Devise. Nicht unbedingt diese Work-Life-Balance, die sich die junge Generation auf die Fahne geschrieben hat.

Das klingt, als sprächen hier unsere Eltern.

Ja! Aber es stimmt doch. Erst musst du etwas aufbauen, und dann kannst du das Leben genießen. Ich finde es schlauer, das frühzeitig zu tun und möglichst unabhängig zu werden. Sonst hat man für den Rest seines Lebens einen Chef.

Wobei kommen dir die besten Ideen?

Früher beim Joggen. Das ist so langweilig, dass man automatisch anfängt, nachzudenken. Ich hatte aber nie Probleme, Ideen hervorzubringen. Wenn ich in Ruhe gelassen werde und keinen Termin habe – das kommt leider zurzeit selten vor – sitze ich an meinem Schreibtisch im 9. Stock und blicke durch die breite Fensterfront über das Ruhrgebiet. Neben mir liegen immer ein Stapel Papier und mein Lieblingsstift, mit dem ich dann etwas skizziere. Oder ich lese eine Publikation und denke: Wie könnte man das noch besser machen? Noch eleganter? Revolutionärer?

Die Coronazeit hat in vielen Bereichen die Forschung lahmgelegt. Wie seid ihr am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung damit umgegangen?

Da wir durch die Abzüge im Labor einen guten Luftumlauf haben, konnten wir weiterarbeiten. Natürlich im Schichtbetrieb und auf Abstand. Bald haben wir überlegt, was wir beitragen können. Wir sind ja alles ausgebildete Chemiker – quasi die Speerspitze der Forschung, wie wir uns am liebsten sehen würden. Wie andere akademische Einrichtungen haben auch wir Handdesinfektionsmittel hergestellt – aus Isopropanol, Wasserstoffperoxid und ein bisschen Duftstoff – und davon 10 000 Liter der Stadt Mühlheim geschenkt.

Dann haben wir uns erinnert, dass die Chemie so viel mehr kann. Wir werden zwar immer wahrgenommen als Umweltverschmutzer und „Plastik-in-den-Ozean-Kipper“. Doch die schlimmste bisherige virale Pandemie – HIV – wurde mit kleinen Wirkstoffmolekülen gebannt. Also mithilfe von Chemie und Katalyse.

Bei der großtechnischen Herstellung des HIV-Medikaments Darunavir wird heute Prolin als Katalysator eingesetzt.

Genau. Mit unserem Verfahren! Inspiriert durch die HIV-Geschichte dachte ich immer, wie wichtig es wäre, auch gegen Corona Wirkstoffe zu entwickeln. Damals war Remdesivir, von Gilead eigentlich gegen Ebola entwickelt, sehr vielversprechend. Es war zugelassen, hätte ein Blockbuster werden können, doch die Synthese ist mit zwölf Stufen hochkompliziert. Um es in großen Mengen herzustellen veranschlagte Gilead mindestens ein Jahr.

Und da kam Dir die Idee ...

Versuchen wir doch, einen kürzeren Weg zu finden und probieren dabei etwas Neues: Jeder legt seine Arbeit beiseite, und das ganze Labor arbeitet zusammen! Wir haben zwei Teams gebildet, die quasi um die Wette Synthesevorschläge entwickelt und sie via Videokonferenz intensiv diskutiert haben. Am Ende kam ein Syntheseweg heraus, der auf dem Papier richtig gut war – in nur drei Stufen. Ganz kraftvoll, nur C-C-bindungsbildende Schritte, keine Umwege über Schutzgruppen und Redoxreaktion. So wie ich es liebe.

Hat es auch im Labor funktioniert?

Es wurde kompliziert. Angefangen damit, dass ein Ausgangsstoff, der Zucker Ribose, im Chemikalienhandel überall ausverkauft war. Offenbar wollte alle Welt Remdesivir herstellen. Schließlich habe ich bei Amazon Ribose „für Bodybuilder“ erstanden.

Mit der Zeit sprangen etliche Mitarbeiter ab, gingen zurück an ihre eigentlichen Themen. Doch ein harter Kern blieb dran, knackte den ersten Schlüsselschritt. Als wir nach einem Jahr tatsächlich fertig waren, gab es aber bereits Bedenken wegen zu geringer Wirksamkeit von Remdesivir gegen Corona. Dann war die Geschichte nicht mehr so heiß und das Momentum vorbei. Für eine Publikation in „Science“ oder „Nature“ hat es nicht mehr gereicht. Aber wir haben trotzdem die beste Synthese für das Zeug! Sie ist publiziert, patentiert, und wir sind im Gespräch mit Gilead.

Aktuelle Studien zeigen, dass Remdesivir, wenn es frühzeitig gegeben wird, Risikopatienten vor invasiver Beatmung bewahren kann.

Das wäre cool. Die Sache hat bei mir jedenfalls ein kleines Feuer entfacht für das Lösen real existierender Probleme. Ich finde es heute fast arrogant zu sagen: „Sorry, Klimawandel, Pandemie (oder was auch immer) ist nicht unsere Aufgabe – ich mache lieber Selen-Phosphorverbindungen, weil die noch nie gemacht worden sind.“ Wenn es wichtige Probleme gibt, kann man da als Chemiker wirklich mithelfen.

Die Fragen stellte Catarina Pietschmann