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Mit Provenienzforschung auf der Spur geraubter Bücher

Zwei Forschungsprojekte sollen klären, welche Bücher in den Bibliotheken des Instituts für Judaistik und des Botanischen Gartens der Freien Universität Berlin aus NS-Raubgut stammen

23.02.2022

Prachtband: Lisa Trzaska recherchiert die Herkunft einer reichhaltig illustrierten Ausgabe von Alexander von Humboldts Reisebericht zu Südamerika.

Prachtband: Lisa Trzaska recherchiert die Herkunft einer reichhaltig illustrierten Ausgabe von Alexander von Humboldts Reisebericht zu Südamerika.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Manchmal sei es nur so ein Gefühl, sagt Stephan Kummer. „Wir gehen systematisch durch die Regale, und dann ist da ein Buch, dass schon optisch so wirkt, als wenn wir prüfen sollten, wie es hierhergekommen ist.“ Kummer ist Provenienzforscher der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin und Spezialist für die judaistischen Bestände. Doch auch mit jahrelanger Erfahrung, guter Intuition und Ausdauer für detektivische Recherchen liegen manchmal Jahre zwischen diesem ersten Gefühl und der Gewissheit, dass ein Buch auf illegalen Wegen in die Bibliothek gelangt ist.

In der Zeit des Nationalsozialismus wurden in Deutschland und im besetzten Europa viele Millionen Bücher geraubt, ihre Besitzerinnen und Besitzer zum Verkauf gezwungen, enteignet, vertrieben oder ermordet. Bücher machen den größten Teil des NS-Raubguts aus, das sich heute in deutschen Institutionen befindet.

Doch Provenienzforschung in Bibliotheken ist ein komplexes Arbeitsfeld, bei dem die Forschenden sich interdisziplinär zwischen Geschichte, Politik und Kultur bewegen. Bücher sind Massenware: Erst die Entschlüsselung von handschriftlichen Eintragungen und die oft langwierige Recherche von Bibliothekstempeln oder Exlibiris-Aufklebern machen sie zu Beweisstücken bei der Aufklärung historischer Verbrechen und zu Zeugnissen individueller Schicksale.

Eine Million Bücher müsste geprüft werden

An der Freien Universität befasst sich seit 2013 die Arbeitsstelle Provenienzforschung unter der Leitung von Ringo Narewski mit dieser Aufgabe. Alle Ergebnisse des Teams und seiner Kooperationspartner an anderen Institutionen sind in der Datenbank „Looted Cultural Assets“ abrufbar, die sich seit ihrem Start 2016 bereits zu einem zentralen Werkzeug der Provenienzforschung entwickelt hat.

Doch Ringo Narewski schätzt, dass es noch Jahrzehnte dauern wird, bis die Provenienz aller verdächtigen Bücher recherchiert sein wird. Allein in der Universitätsbibliothek der Freien Universität, die auch alle Instituts- und Fachbereichsbibliotheken umfasst, müsste etwa eine Million der insgesamt 6,5 Millionen Bände geprüft werden.

„Zwei sinnvolle Teilbereiche können wir nun mit Unterstützung des Deutschen Zentrums für Kulturgutverluste systematisch und vollständig überprüfen“, sagt Narewski. Sogenannte Erstchecks hätten gezeigt, dass zwei Bibliotheken der Freien Universität einen besonders hohen Anteil an NS-Beutegut enthalten: die Bibliothek des Botanischen Gartens und Botanischen Museums Berlin und die des Instituts für Judaistik.

Soeben restituiert. Der Bibliotheksstempel der Jüdischen Gemeinde zu Berlin wies die Provenienzforscher auf die richtige Spur.

Soeben restituiert. Der Bibliotheksstempel der Jüdischen Gemeinde zu Berlin wies die Provenienzforscher auf die richtige Spur.

Herbar und Bibliothek wurden im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört

Das Botanische Museum war im März 1943 von einer Bombe getroffen worden, Herbar und Bibliothek verbrannten fast vollständig. Noch während des Krieges baute das NS-Regime die Bestände wieder auf: Die enorme Summe von einer Million Reichsmark wurde zur Verfügung gestellt und ermöglichte umfangreiche antiquarische Ankäufe in Deutschland und im besetzten Europa. Außerdem erhielt die Bibliothek Schenkungen von NS-Institutionen und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Botanik in den besetzten Gebieten.

Seit April 2021 recherchiert Lisa Trzaska die Provenienz von etwa 12.000 Büchern, unter denen sich höchstwahrscheinlich viele aus NS-Raub- und Beutegut befinden. „Mindestens ein Drittel dieser Bücher stammt aus niederländischen Antiquariaten“, erläutert sie. Die Wehrmacht hatte die Niederlande 1940 überfallen. Viele Antiquariate wurden „arisisiert“, die jüdischen Eigentümer wurden also enteignet. Andere mussten unter Druck billig verkaufen oder ließen ihre Bücher auf der Flucht zurück. „Die Provenienzen zu erforschen, ist schwierig, weil sich so viele Faktoren überlagern“, sagt Lisa Trzaska.

Alexander von Humboldts Reisebericht durch Südamerika

Unter den Büchern, die während des Krieges aus den Niederlanden ins Botanische Museum Berlin kamen, ist auch eine mehrbändige, reich illustrierte Ausgabe von Alexander von Humboldts Reisebericht durch Südamerika. „Man kann sehen, dass vorne ein rechteckiges Exlibris eingeklebt war, das aber fein säuberlich aus jedem Band herausgetrennt wurde“, erläutert Trzaska.

Derzeit versucht sie herauszufinden, wem die wertvollen Bände gehörten und ob sie rechtmäßig erworben wurden. Falls es NS-Raubgut ist, wird sie versuchen, die rechtmäßigen Eigentümer zu finden.

Ringo Narewski (li.) leitet die Arbeitsstelle Provenienzforschung der Universitätsbibliothek, Stephan Kummer erforscht die Provenienzen der judaistischen Bestände.

Ringo Narewski (li.) leitet die Arbeitsstelle Provenienzforschung der Universitätsbibliothek, Stephan Kummer erforscht die Provenienzen der judaistischen Bestände.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Im besten Fall können die Bücher zurückgegeben werden. Aber auch die Recherche von Rechtsnachfolgern, Nachfahren oder Verwandten der Opfer ist schwierig, sagt Stephan Kummer. Er erforscht seit November 2020 die Provenienzen der judaistischen Bestände der Universitätsbibliothek. Als 1963 an der Freien Universität das Institut für Judaistik aufgebaut wurde – das erste in Deutschland – kamen die meisten Bücher über Empfehlungen in die Bibliothek. Die Verkäufer wurden selten notiert, weshalb Stephan Kummer nun 5632 Bücher überprüft, die vor 1945 erschienen sind.

Puzzleteile, um Familiengeschichten zu vervollständigen

Einige Rätsel, die ihren Kollegen seit Jahren Kopfzerbrechen bereiteten, konnten sie bereits lösen. So wie das eines unscheinbaren Bandes mit dem Titel „Richtlinien zu einem Programm für das liberale Judentum“. In schwungvoller Handschrift hat jemand „Grete Tichauer“ hineingeschrieben, darunter mit Bleistift: „Lotte“. Durch intensive Recherchen konnte Kummer herausfinden, dass die beiden Frauen aus Breslau stammten und im Konzentrationslager Auschwitz ermordet wurden. Bei der aufwendigen Suche nach lebenden Verwandten half der Kontakt zur israelischen Hilfsorganisation Magen David Adom, deren Mitarbeiterin Telefonbücher abtelefonierte.

Im August 2021 konnte das Buch endlich zurückgegeben werden. „Mit den Büchern und unseren Recherchen geben wir den Erben einige Puzzlestücke, die helfen können, die Familiengeschichte zu vervollständigen“, sagt Ringo Narewski. Fast 80 Jahre nach der Shoah ist das Buch für die Familie das einzige Erinnerungsstück an Margarete und Charlotte Tichauer.