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„Berlin ist eigentlich ein Wald“

Ein Gespräch mit der japanischen Autorin Hiromi Ito und ihrer Übersetzerin, der Japanologie-Professorin Irmela Hijiya-Kirschnereit – die japanische Lyrikerin ist zu Gast bei Temporal Communities

30.06.2022

Die Schriftstellerin Hiromi Ito (l.) und die Literaturwissenschaftlerin Irmela Hijiya-Kirschnereit standen bei der Übersetzung des Romans „Dornauszieher“ in engem Kontakt.

Die Schriftstellerin Hiromi Ito (l.) und die Literaturwissenschaftlerin Irmela Hijiya-Kirschnereit standen bei der Übersetzung des Romans „Dornauszieher“ in engem Kontakt.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Die Lyrikerin Hiromi Ito und die Professorin für Japanologie Irmela Hijiya-Kirschnereit verbindet eine lange Arbeitsfreundschaft. Bereits in den 1990er-Jahren übersetzte die Literaturwissenschaftlerin die damals schockierend wirkenden Gedichte der Autorin, Performerin und Essayistin, die sich dem Leben mit einer neuen Sprache zuwandte. Sie griff Themen wie Menstruation und Geburt auf oder sprach – lange vor der Debatte um „Regretting Motherhood“ – die ambivalenten Gefühle der Mutterschaft auf eine bis dahin unerhörte literarische Weise an.

Hiromi Itos Werk hat inzwischen viele Facetten. Die Autorin verfasst Kolumnen und Ratgeber; weltweit Anerkennung finden zudem ihre Beiträge zum „Nature Writing“. Im vergangenen Jahr erschien Irmela Hijiya-Kirschnereits Übersetzung von Itos Roman „Dornauszieher“, ein autofiktionaler Text über eine gewisse Shiromi Ito, die, wie die Autorin, drei Töchter hat und zwischen den gebrechlichen Eltern in Japan und dem kränkelnden Ehemann in den USA pendelt.

Der unterhaltsame und zugleich vielschichtige Text, der in Japan bereits 2007 veröffentlicht worden ist, öffnet auf faszinierende Weise Türen in die japanische Literatur- und Kulturgeschichte, in religiöse Welten und in die Natur.

Die deutsche Fassung schaffte es in diesem Frühjahr auf die Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse für Übersetzung – und das Buch ist ein hervorragendes Beispiel für zeitgenössische internationale Literatur. Vor 30 Jahren, erklärt Irmela Hijiya-Kirschnereit, hätte ein Text wie dieser wegen seiner Fremdheit noch nicht übersetzt werden können.

Ein spannendes Werk für einen literaturwissenschaftlichen Cluster, in dessen Mittelpunkt globale Literatur und die Verbindungen zwischen Texten durch Zeit und Raum stehen. Die Dorothea Schlegel Artist in Residency ermöglicht Hiromi Ito einen Aufenthalt im literaturwissenschaftlichen Forschungsverbund „Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective“, um sich unter anderem gemeinsam mit Irmela Hijiya-Kirschnereit mit Fragen der Übersetzung zu befassen, einem Forschungsschwerpunkt des Clusters.

Frau Professorin Hijiya-Kirschnereit, wie entstand die Idee, das Buch „Dornauszieher“ zu übersetzen?

Irmela Hijiya-Kirschnereit: Mich hat das Buch bereits fasziniert, als es vor 15 Jahren in Japan erschienen ist. Ich fragte mich allerdings, kann man das wirklich übersetzen? Es erschien mir viel zu komplex! Mein Mann ermutigte mich, es zu wagen. Aber ich brauchte viele Fassungen, bis ich das Gefühl hatte, so lässt sich dieser dichte und zugleich unterhaltsame Text für ein deutschsprachiges Publikum übertragen.

Was war besonders schwierig?

Irmela Hijiya-Kirschnereit: Die vielen Ebenen des Textes. Wenn man eine Übersetzung überfrachtet, funktioniert sie nicht. Der Text hat zudem einen ganz besonderen Klang. Das verlangte mir immer wieder neue Entscheidungen ab, war aufregend und berührend, fast eine körperliche Erfahrung.

Hat bei der Übersetzung geholfen, dass Sie beide sich kannten?

Hiromi Ito: Während der Pandemie haben wir uns regelmäßig via Skype gesprochen. Das Buch ist voller Zitate, und ich habe erklärt, woher die Zitate stammen. Wenn man nicht in Japan aufgewachsen ist, gibt es außerdem viele Dinge, die man nicht weiß. Es ist großartig, darüber zu reden und das Wissen zu teilen.

Irmela Hijiya-Kirschnereit: Für mich war es ein letzter Übersetzungscheck. Es war sehr hilfreich, dass ich nachfragen konnte.

Nicht nur literarische Zitate, der Text hat viele Bezüge und Anspielungen – wie schon der ein wenig barocke Untertitel des Buchs „Der fabelhafte Jizo von Sugamo“.

Hiromi Ito: Der Titel und die Kapitelüberschriften sind eine Parodie auf alte japanische buddhistische Geschichten aus dem Japan des 13. Jahrhunderts. Ich liebe klassische Texte! Als ich anfing, das Buch zu schreiben, faszinierte mich eine mündliche Erzählform aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Im Mittelpunkt dieser teilweise grausamen und erotischen Geschichten, die von Erzählern verbreitet wurden, die von Dorf zu Dorf wanderten, standen Frauen. Diese Frauen, ursprünglich Prinzessinnen, müssen eine Reihe von Schwierigkeiten überwinden, über sich hinauswachsen – und darin erkannte ich mich und meine damalige Lebenssituation wieder. (Sie lacht.)

Wie passt das Buch zum Forschungsprogramm des Exzellenzclusters?

Irmela Hijiya-Kirschnereit: Es ist ein spannendes Material, um die Ideen des Clusters zu überprüfen. Im Mittelpunkt des Clusters stehen die globalen Verflechtungen von Literatur, verbunden mit der Einsicht, dass es oftmals unerwartete Verschränkungen gibt. Hiromi Ito greift Franz Kafka und Euripides auf und verbindet diese klassischen europäischen Texte mit japanischer Mythologie und Poesie der frühen Moderne, und das auf eine sehr sichtbare, hörbare, ja sogar spürbare Weise.

Wie können sich Literaturwissenschaftlerinnen und Künstlerinnen produktiv austauschen?

Hiromi Ito: Ich bin keine Literaturwissenschaftlerin. Irmela Hijiya-Kirschnereit weiß viel mehr über japanische Literatur. Aber ich mache Literatur.

Irmela Hijiya-Kirschnereit: Es gehört zum Programm des Clusters Temporal Communities, Künstlerinnen und Künstler mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammenzubringen, die sich in theoretischer oder historischer Perspektive mit den Werken beschäftigen.

Für mich persönlich ist es eine kostbare Gelegenheit, sich fast täglich auszutauschen. Gemeinsam entwickeln wir neue Fragen, die dann auf unterschiedliche Weisen in unsere jeweiligen Arbeiten eingehen. Ein Thema, das uns beide verbindet, ist das Verhältnis zwischen Werk und Übersetzung. Hiromi Ito hat beispielsweise selbst übersetzt oder ihre Bücher illustriert, das bedeutet einen Wechsel in ein anderes Medium. Eine Übersetzung ist immer eine Neuschöpfung. Übersetzung kann auch eine Übertragung in eine andere Kunstform bedeuten, zum Beispiel in einen Tanz.

Für den Cluster – und insbesondere den Forschungsbereich „Travelling Matters“, dem ich angehöre – sind diese Übertragungen ein zentrales Thema.

Frau Ito, Sie nehmen an den Tagungen und Workshops des Clusters teil, lesen aus Ihrem Werk und sprechen darüber. Haben Sie noch ein besonders Projekt, das Sie während Ihres Aufenthalts verfolgen?

Hiromi Ito: Ich beschäftige mich mit Mori Ogai …

… einem Arzt und Schriftsteller, der Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin unter anderem bei Robert Koch studierte und deutsche Literatur ins Japanische übersetzte …

… und folge seinen Spuren in Berlin, Leipzig und München. Oftmals stand der Inhalt seiner Geschichten im Mittelpunkt, mich interessiert jedoch sein wunderbarer Stil. Außerdem beschäftigt mich, dass er immer als Eremit leben wollte und wegen seiner vielen Interessen und Verpflichtungen letztlich nie dazu kam.

Ein weiterer Aspekt ist seine Übersetzung von Hugo Landsberger, der unter dem Pseudonym Hans Land veröffentlichte – ein deutscher Autor und Zeitgenosse Ogais, der hierzulande gar nicht mehr gelesen wird, in dessen Geschichte „Erling“ sich die Japaner aber verliebt haben.

Seit ich in Berlin bin, hat sich meine Perspektive nun noch einmal geändert. Ich bin fasziniert von den vielen Bäumen, die es hier gibt. Ich dachte, Berlin sei eine Großstadt, dabei ist es eigentlich ein Wald. In Japan engagiere ich mich als Aktivistin für Bäume, die in den Städten – auch in meiner Stadt – von Abholzung bedroht sind. Ich überlege nun, beide Themen zu verbinden und Japaner zum Nachdenken über Bäume anzuregen – und über Mori Ogai, denn es gibt einen Zusammenhang: Ogai war sein Künstlername, sein Geburtsname war Mori Rintaro, und in beiden Namensteilen ist ein Schriftzeichen für „Bäume“ und „Wald“ enthalten.

Die Fragen stellte Nina Diezemann

Weitere Informationen

Veranstaltungshinweis

Hiromi Ito ist am 12. Juli um 18 Uhr im Literarischen Colloquium (LCB) zu Gast und spricht mit dem Autor Frank Witzel über autobiografisches Schreiben. Das Gespräch wird moderiert von Irmela Hijiya-Kirschnereit.

Am 26. August 2022, 17 Uhr, findet im Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin die Veranstaltung „Inspiration Ogai“ statt. Eine Kooperation des Exzellenzclusters Temporal Communities mit dem JDZB und der Mori-Ogai-Gedenkstätte.