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Inzest – ein globales Tabu?

Der amerikanische Historiker David Warren Sabean forscht zu dem Thema an der Freien Universität Berlin

 

Was versteht die Gesellschaft eigentlich unter Inzest?
Das ist je nach geschichtlicher Epoche und Kulturkreis ganz unterschiedlich. Im 17. Jahrhundert gab es eine Debatte über den Inzest von Schwager und Schwägerin. Es wurden Tausende von Seiten darüber verfasst, ob die Ehe mit der Schwester der verstorbenen Frau zulässig sei oder nicht. Nach Genesis 2,24 sind Mann und Frau ein Fleisch, deswegen wurden Frau und Schwester als „ein Fleisch mit dem Manne“ angesehen. Aber erst Friedrich der Große erlaubte 1740 die Ehe zwischen Schwager und Schwägerin. Zwischen 1740 und 1840 begannen die Diskussionen um den Inzest zwischen Bruder und Schwester. Dazu haben alle großen Schriftsteller mindestens eine Novelle geschrieben, Goethe sogar drei. Am Ende des 19. Jahrhunderts, zwischen 1870 und 1930, rückte in Literatur und Wissenschaft der Inzest zwischen Mutter und Sohn in den Vordergrund, und seit dem zweiten Weltkrieg bis weit in die achtziger Jahre hinein wurde besonders in den USA der Inzest zwischen Vater und Tochter untersucht.

Wieso kam die Diskussion um den Inzest von Vater und Tochter gerade in Amerika auf?
Das hängt einerseits mit dem Charakter der Nachkriegsfamilie zusammen und andererseits damit, wie sich Menschen bestimmte Zusammenhänge erklären, hier ist ein sehr großer Einfluss der Psychotherapie spürbar. Schaut man nämlich in die amerikanischen Frauenzeitschriften jener Zeit, findet man häufig von Männern verfasste Artikel, die sagen, der Mann und Vater solle wieder zurück in die Familie gehen. Es wurde sozusagen ein Druck aufgebaut, dass der Vater für seine Tochter da zu sein und sich mit ihr zu beschäftigen hat. Zweitens haben die Mütter meist nicht gearbeitet, aber der Vater erwartete von seiner Tochter, dass aus ihr etwas wird. Diese Nachkriegstöchter sind arbeiten gegangen und haben versucht, Karriere zu machen. Jetzt sind sie unzufrieden und statt einer Kritik am Kapitalismus oder der Gesellschaft sehen sie ihre Probleme als ein Familienproblem.

Wieso gab es diese Diskussion nicht in Deutschland?
In Deutschland waren Vater und Tochter kein Thema, da die Väter häufig im Krieg geblieben sind. Hier spielte das heikle Verhältnis von Mutter und Tochter eine große Rolle. Das kann man schon an den vielen erschienenden Büchern sehen.

Ist das Thema „Inzest“ im Rahmen der Gender Studies aktuell geworden?
Teilweise, es ist noch nicht genau untersucht. Die Gender Studies oder die Frauenbewegung der zweiten Generation in Amerika hatten ein großes Interesse daran, Gewalt gegen Frauen zu thematisieren. Es erschienen viele Bücher über Vergewaltigungen, die heftig diskutiert wurden. Es gab eine Reihe von Selbsthilfegruppen, besonders in den akademischen Zentren. Dort kamen die Frauen im Alter zwischen 35 und 45 Jahren zusammen und redeten über ihre Probleme. Vergewaltigung war ein wichtiges Thema, wie die Frage nach sexueller Gewalt gegenüber Frauen im Allgemeinen und zum Inzest im Besonderen. In einer dieser Gruppen kam dann die Vorstellung von der „wieder gewonnenen Erinnerung“ auf, die sich dann sehr schnell verbreitete.

Was versteht man unter „wieder gewonnener Erinnerung“?
Die Missbrauchsopfer haben das Geschehene häufig verdrängt und vergessen, erst durch eine Therapie konnte der Missbrauch von ihnen sozusagen in getreuer fotografischer Realität wieder entdeckt werden. Auf Grundlage dieser „wieder gewonnenen Erinnerungen“ von Töchtern gab es sogar Prozesse gegen Väter, die zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt wurden.

Welchen Einfluss hatte das Buch der Harvard-Psychologin Judith Hermann über „Father-daughter incest“?
Einen überaus großen. Denn sie hatte ihrer Untersuchung von Frauen, die von ihren Vätern missbraucht worden waren, eine Liste mit psychischen Symptomen angefügt, an denen die Opfer litten. Mit Hilfe dieser Symptomliste glaubte man nun, Missbrauch sicher diagnostizieren zu können. Dieses Buch und diese Liste sind sofort in fast allen Wissenschaften rezipiert worden wie beispielsweise in den Kunst- oder Literaturwissenschaften. Ich habe diese Liste bei einer Dinnerparty vorgelesen und gefragt, wer auch an diesen Symptomen leidet. Das Ergebnis war, dass alle an circa 30 Prozent dieser Symptome litten.

Auch Männer?
Alle! Diese Hysterie legte sich erst, nachdem ein verurteilter Vater erfolgreich Psychotherapeuten auf Schadensersatz in Millionenhöhe verklagte und daraufhin die Krankenversicherungen für diese Diagnose nicht mehr bezahlten.

Was sind Ihre Quellen?
Ich fange an mit den Theologen und Naturrechtsphilosophen des 17. Jahrhunderts, gehe weiter über die Romanciers und Rechtsgelehrten des 18. und 19. Jahrhunderts bis hin zu Freud. Mich interessieren alle Ebenen dieses Themas.

Wieso forschen Sie hier am Friedrich-Meinecke-Institut?
Es ist ein führendes Zentrum der Inzestforschung. Claudia Ulbrich hat zu diesem Thema letztes Jahr einen Tagungsband herausgegeben und betreut mehrere Dissertationen dazu.

Das Gespräch führte Volker Heenes

ZUR PERSON

Forschen an der FU

David Warren Sabean, geboren 1939 in Waltham, Massachusetts, studierte Anfang der sechziger Jahre an der University of Wisconsin-Madison Kultur- und Geistesgeschichte bei dem deutsch-jüdischen Historiker George Mosse. Seit 1993 ist er Henry J. Brumann Professor of German History an der University of California in Los Angeles und erhielt kürzlich den Humboldt-Forschungspreis 2004. Sabean möchte innerhalb der nächsten drei Jahre für je vier Monate an das Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität kommen. In Berlin will er über den Inzest vom 16. Jahrhunderts bis heute forschen, und zwar in Europa und Amerika.