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Hundert Tonnen aus einem Ei

Warum die Dinosaurier so groß geworden sind und was die Weltraummedizin davon lernen kann

Von Ilka Seer

„So unterschiedlich Astronauten und Dinosaurier sind, eines haben sie gemeinsam: Beide müssen mit extremen Bedingungen der Schwerkraft zurechtkommen. Der Mensch im All mit der Schwerelosigkeit und der Brachiosaurus mit der hohen Schwerkraft, der er wegen seiner enormen Körpermasse ausgeliefert ist“, erzählt Hanns-Christian Gunga. Über seinem Schreibtisch schwebt die überdimensionale Marionette eines fliegenden Ikarus, und sein Computer ist flankiert von zahlreichen Fossilien, die er in Westfalen und Nordafrika gesammelt hat. Kein Wunder: Gunga ist Professor für Weltraummedizin und extreme Umwelten am Campus Benjamin Franklin der Berliner Universitätsmedizin Charité.

Er untersucht, wie der menschliche Körper auf außergewöhnliche Belastungen wie Hitze oder Höhe reagiert. Gleichzeitig erforscht er die Physiologie von Dinosauriern. Den 50-Jährigen fasziniert, welche Strukturen die riesigen Lebewesen bilden mussten, um ihre hundert Tonnen an Land zu bewegen. „Hier passiert genau das Gegenteil von dem, was dem Astronauten in der Schwerelosigkeit widerfährt: Der Astronaut baut Muskelmasse ab, löst Teile seines Skelettsystems auf und passt sich damit seiner neuen Umwelt an.“ Die Saurier sind den anderen Weg gegangen. Sie haben an Masse zugelegt und infolgedessen ihre Knochenstrukturen verändert.

In den kommenden drei Jahren will eine internationale Forschergruppe von Paläontologen, Physiologen, Geologen und Biologen den letzten Geheimnissen der Riesensaurier auf die Spur kommen und ergründen, warum die vor über 65 Millionen Jahren ausgestorbenen Sauropoden so gigantisch groß werden konnten. „Ihre Eier waren oft nicht viel größer als Straußeneier“, wundert sich Gunga, „doch was aus ihnen schlüpfte, war dagegen gigantisch.“ Die pflanzenfressenden Reptilien übertrafen an Größe und Gewicht alle Landlebewesen, die jemals die Erde bevölkert haben. Mit ihren hundert Tonnen Gewicht wogen sie so viel wie zehn ausgewachsene Elefanten oder 1400 Durchschnittsdeutsche.

Für Dinosaurier und Erdgeschichte begeistert sich der Forscher seit seiner Kindheit, weshalb er sich nach dem Abitur für ein Studium der Paläontologie in Münster entschied. Als er sich währenddessen mit Fossilien beschäftigte, wollte er wissen, wie die Dinosaurier tatsächlich lebten. „Das kam mir bei den Paläontologen immer viel zu kurz.“ Gunga begann deshalb noch vor seinem Geologie-Diplom das Zweitstudium der Humanmedizin. 1984 wechselte er an die Freie Universität Berlin, wo er sein Medizinstudium abschloss und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft für extreme Umwelten bei Karl Kirsch wurde.

Gunga beschäftigte sich mit den Arbeiten des Berliner Physiologen Nathan Zuntz (1847-1920), der als einer der ersten Wissenschaftler den Mensch in verschiedenen Umweltbedingungen untersuchte. Dabei schreckte Zuntz vor Eigenversuchen nicht zurück: Bereits vor hundert Jahren stieg er mit einem Ballon in die Luft auf, um die Höhenphysiologie zu erkunden. Nachdem der Berliner Flughafen Johannisthal gegründet worden war, mietete er sich ein Flugzeug und erforschte, wie der Körper und die Physiologie aufs Fliegen reagieren. 1910 veröffentlichte Zuntz mit der Studie „Zur Physiologie und Hygiene der Luftfahrt“ eine der ersten Schriften weltweit, die sich mit der Luftfahrtmedizin beschäftigten. Mit Zuntz verbindet Hanns-Christian Gunga zweierlei: Der Vater dreier Söhne promovierte 1989 über Zuntz und bekleidet seit dem vergangenen Sommersemester eine Stiftungsprofessur, die den Namen des Lokalmatadors der Luftfahrtmedizin trägt.

Ein Geldgeber fand sich auch für das Dinosaurier-Projekt. Drei Jahre lang fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Wissenschaftler mit insgesamt 1,4 Millionen Euro. Ein Teil ihrer Arbeit ist es, herauszufinden, wie viel Energie ein Dinosaurier pro Tag verbrauchte und wie viel er fressen musste. Dafür leisten die Wissenschaftler Detektivarbeit. Da die Ökologie eines Tieres hauptsächlich durch sein Volumen bestimmt wird, errechnen die Forscher zunächst anhand von Dinosaurierskeletten, wie groß und dick die Tiere waren. Hierfür stellen ihnen verschiedene Museen in der ganzen Welt Skelette zur Verfügung. Eines der Versuchsobjekte ist der Brachiosaurus im Berliner Naturkundemuseum – weltweit das größte Skelett des Giganten, der vor 120 Millionen Jahren lebte.

Doch bevor sich die Forscher ihm widmen, erproben sie ihre Herangehensweise an Knochengerüsten ausgestopfter Elefanten, Nashörner und Rinder. Mit einem Laser scannen Fotogrammeter der Technischen Universität Berlin die Skelette, um eine dreidimensionale Rekonstruktion im Computer zu erstellen. Mit den Kollegen der Forschergruppe modellieren sie dann auf dem Rechner die Körpermasse um das Knochengerüst. Dabei orientieren sie sich an ähnlich großen Tieren, zum Beispiel Giraffen, Elefanten oder Krokodilen. Erst nachdem die Wissenschaftler die &Mac226;Probanden' modelliert haben, verraten ihnen die Museen Gewicht und Körperumfang der Versuchsobjekte. „So können wir überprüfen, wie genau unsere Methodik ist“, erzählt Gunga und ergänzt, dass sich anhand der Daten sogar die Größe und Anordnung der Organe sowie die Stoffwechselrate ermitteln lasse.

Auch die Gelenke offenbaren so einiges über den Bewegungsapparat der ausgestorbenen Tiere. „Wie schnell sich die Dinosaurier damals fortbewegt haben, können wir mit Hilfe der fossilen Fährten der Tiere und anderer Daten errechnen“, sagt Gunga. „Dafür schauen wir uns die Körpermasse, die Ausmaße der Knochen und Gelenke, die Muskelansätze an den Knochen sowie die Muskelmasse der Extremitäten an.“ Die Knochen verraten den Wissenschaftlern zudem, wie schnell die Sauropoden gewachsen sind und welches Alter sie erreicht haben. Wie an den jahreszyklisch auftretenden Wachstumsringen der Bäume lässt sich das Alter der Dinosaurier an den Knochen erkennen. Aus der Analyse des Knochenaufbaus der Dinosaurier können sich aufschlussreiche Informationen für die Biomechanik und Materialstoffkunde ergeben.

„Besonders interessant sind für uns die Zähne der Reptilien“, berichtet der Westfale, der gemeinsam mit dem Amerikaner Otto Appenzeller, Wolf-Dieter Heinrich vom Berliner Naturkundemuseum und dem FU-Physiker Ludger Wöste die Zahnstruktur des Brachiosaurus analysiert. Mit Hilfe eines Lasers führen die Forscher beim Querschnitt eines Zahns eine Materialanalyse für verschiedene Isotopen durch. Aus diesen Daten ziehen sie neben dem Wachstum unter anderem auch Rückschlüsse auf die Aktivität des autonomen Nervensystems der Saurier, da bestimmte Strukturen in den Zähnen nur in Ruhephasen, andere während ihrer aktiven Phasen angelegt wurden.

Bleibt die Frage, wie viel Energie die Pflanzenfresser über die Nahrung aufnehmen mussten, damit sie trotz ihrer gewaltigen Größe und Masse so agil sein konnten. Auch hierfür haben sich die Wissenschaftler etwas einfallen lassen: Sie stellen einen künstlichen Magen her. „Wir nehmen an, dass sich die Dinosaurier vor allem von Gingko und anderen Pflanzen ernährten“, sagt Gunga. Seine Kollegen von der Universität Bonn wollen deshalb in Fermentationskammern Material von derartigen Pflanzen verdauen und so überprüfen, wie viele Nährstoffe und Kohlenhydrate sie lieferten. „Vielleicht können wir am Ende sogar die Frage beantworten, warum der Gigantismus im Tierreich eine Sackgasse war und die Ära der Riesendinos plötzlich zu Ende ging.“

NATHAN-ZUNTZ-STIFTUNGSPROFESSUR

Zentrum für Weltraummedizin

Die Stiftungsprofessur wurde im Sommersemester 2004 eingerichtet. Sie kam in erster Linie zustande, weil sich die Luft- und Raumfahrtindustrie, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Köln/Bonn und das Bundesforschungsministerium Sorgen über den Nachwuchs im Bereich der Weltraummedizin macht. Aufgrund der großen Pensionierungswelle sind fünfzig Prozent der Luft- und Raumfahrtmediziner in Deutschland ausgeschieden. Eine Wiederbesetzung der Stellen ist in den Zeiten knapper werdender Mittel kaum mehr möglich – zumal Deutschland beschlossen hat, keine Astronauten ins Weltall zu schicken, obgleich das Land fast 38 Prozent der gesamten Kosten an die europäische Raumfahrtbehörde ESA zahlt.

„Es kann nicht sein, dass wir so viel Geld in die europäische Raumfahrt fließen lassen und nachher keine Leute mehr haben, die daran arbeiten“, sagt Hanns-Christian Gunga. Bereits im Jahr 2000 hatte das Bundesforschungsministerium deshalb das Zentrum für Weltraummedizin eingerichtet. Als Sprecher dieses Zentrums hat sich Gunga mit seinem emeritierten Vorgänger Karl Kirsch auf die Suche nach Geldgebern für eine Stiftungsprofessur gemacht – und fand sie mit dem Raumfahrtkonzern EADS, dem Berliner Arzneimittelhersteller Schering, Kayser-Threde in München und dem Berliner Mediziner Roman Skoblo, der auch Vorsitzender der jüdischen Ärzte in Deutschland ist. Die Stiftungsprofessur gilt für fünf Jahre und wird danach von der Charité übernommen. (is)