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„Gegen den Strom“

Die Osteuropa-Historikerin Gertrud Pickhan bürstet historische Quellen gegen den Strich

„Ich finde es sehr sinnvoll, die osteuropäischen Kompetenzen in einem Regionalinstitut zu bündeln“, sagt die Osteuropa-Expertin Gertrud Pickhan, die am 1. September vom Friedrich-Meinecke-Institut in das Osteuropa-Institut der Freien Universität wechselte. Dort wird sie ostmitteleuropäische, das heißt vor allem polnische Geschichte und die Geschichte des osteuropäischen Judentums unterrichten. Auf ihren neuen Arbeitsplatz freut sich die Mitvierzigerin, die seit anderthalb Jahren in Berlin lebt und lehrt. „Deutschlandweit gibt es derzeit keinen günstigeren Studien- und Forschungsort für Osteuropa-Studien als die Drehscheibe Berlin“, sagt Gertrud Pickhan. An der Humboldt-Universität ist die traditionsreiche Slawistik verankert, die sich mit den Sprachen und der Literatur Polens, Russlands, Serbiens, Kroatiens und Tschechiens beschäftigt. Zusätzlich widmen sich dort zwei Professuren der osteuropäischen Geschichte, vor allem dem späten Russischen Reich und der Sowjetunion

Das 1951 gegründete Osteuropa-Institut der Freien Universität orientiert sich hingegen in seiner wissenschaftlichen Ausrichtung an den area-studies, indem es den Großraum Osteuropa, seine Kultur, Geografie, Geschichte, seine Wirtschaft und sein Rechtssystem untersucht. Die Slawistik als Sprach- und Literaturwissenschaft wurde in den neunziger Jahren an der Freien Universität abgeschafft. So kommt es, dass man in Dahlem Osteuropa zwar weiträumig erforscht, seine Sprachen hier aber nicht mehr studieren kann.

„Ein ganz entscheidender Einschnitt für die Osteuropa-Forschung war die Wende, die zu einer völligen Neuorienterung des Fachs in Ost und West geführt hat“, erzählt Gertrud Pickhan. „Mit den Kollegen der Humboldt-Universität arbeiten wir hervorragend zusammen und ergänzen uns vor allem in der Aufteilung der Regionen und historischen Perioden sinnvoll“, führt Gertrud Pickhan aus.

Bei der Dortmunderin kam die große Liebe zu Osteuropa früh. Aufgewachsen im Ruhrgebiet in der Ära Brandt, reiste sie schon zu Schulzeiten nach Moskau und Leningrad, um in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren Geschichte, Slawistik und Erziehungswissenschaften in Münster, Wien und Hamburg zunächst auf das Lehramt zu studieren. Entscheidend für ihr tiefes Verständnis für den östlichen Nachbarn Polen wurde ihr mehrjähriger Aufenthalt am Deutschen Historischen Institut in Warschau.

„Ich freue mich, dass so viele meiner Studentinnen und Studenten schon für längere Zeit in Polen gelebt haben“, erzählt Gertrud Pickhan, die einen Auslandsaufenthalt für entscheidend hält. Während ihrer Warschauer Zeit entdeckte die Musik-Freundin die Liebe der Polen zum schwarzen Jazz. „In der Zeit der Volksrepublik spielte der Jazz in Polen und im gesamten Ostblock eine große Rolle, jedes Kind kennt in Polen bestimmte Jazzmusiker.“ Die Frage, warum die Polen Jazz-Fans sind, ließ Gertrud Pickhan nicht mehr los, so dass sie ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben initiierte. Zwar gäbe es „tonnenweise“ Literatur über den Jazz als eine Musikform der politischen Freiheit, nicht aber über Jazz in Osteuropa, wo Pickhan eine doppeldeutige Funktion des Jazz vermutet.

Auch ein weiteres ihrer aktuellen Forschungsprojekte hat seine Wurzeln in Warschau. In den kommenden Jahren möchte die Historikerin der Frage nachgehen, wie die polnischen Juden auf die Verfolgung der Juden im Dritten Reich nach 1933 reagierten. Pickhan wagt damit einen neuen, da umgekehrten Blick. Denn bislang dominiert in der Forschung das Bild vom armen orthodoxen Ostjuden, das den Blick der assimilierten deutschen Juden wiedergibt.

Um die Frage nach Identität und Integration geht es auch in einem weiteren Buchprojekt. So will die engagierte Professorin ihr Forschungssemester einer besonderen Frau widmen, nämlich der polnischen Schriftstellerin und Politikerin Wanda Wasilewska, die auch als „polnische Leni Riefenstahl“ bezeichnet wird. „Mich interessiert, warum eine sozialkritische Schriftstellerin mit einer besonders eleganten und feinsinnigen Sprache sich vom stalinistischen Terror verführen lässt und in kurzer Zeit als einzige Frau in die Spitze der sowjetischen Nomenklatura aufsteigt.“ Bislang hat Gertrud Pickhan eine Vermutung, die mit dem ungelösten Mord an dem zweiten Ehemann Wasilewskas, einem hochrangigen Gewerkschaftsfunktionär zusammenhängt. So floh das Ehepaar 1939 in das sowjetisch besetzte Lemberg, wo ihr Mann wahrscheinlich vom sowjetischen Geheimdienst liquidiert wurde. „Damit hatten die Sowjets Wasilewska in der Hand“, vermutet Gertrud Pickhan, die neben Polnisch und Russisch auch fließend Jiddisch spricht.

Jiddisch lernte sie in Hamburg, wo sie 1989 in Geschichte promovierte und zehn Jahre später, damals schon wissenschaftliche Mitarbeiterin und Stellvertreterin der Gründungsdirektorin am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig habilitierte. In gewisser Weise führte die Habilitation über den Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund „Bund“ in Polen 1918-1939 die drei großen Interessengebiete Pickhans, Judentum, Polen und Arbeiterbewegung zusammen. In ihrer Habilitation gelingt es Pickhan, die gängige Forschungsmeinung zu widerlegen, der Bund sei mit seinem gleichzeitigen Bekenntnis zur jiddischen Sprache und jüdischer Kultur sowie zum Polentum gescheitert. „Gegen den Strom“ lautet der Obertitel des 2001 verlegten Buchs, das wie ein Motto über dem unkonventionellen historischen Zugang von Gertrud Pickhan stehen könnte.

Auch in einem weiteren neuen Projekt riskiert die Neuberlinerin, historische Quellen gegen den Strich zu bürsten. So will Gertrud Pickhan auf der Basis eines Drittmittelprojekts Gesprächsbücher für deutsche Kaufleute in Russland untersuchen, in denen Kaufleute im 15./16. Jahrhundert auf Alltagssituationen vorbereitet wurden. „Die Konversation mit russischen Partnern in der Sauna wird in den Gesprächsbüchern ebenso thematisiert wie das Ansprechen von russischen Mädchen“, erzählt Pickhan und freut sich über ein frühes Beispiel interkultureller Kommunikation.

DAS OSTEUROPA-INSTITUT IN KÜRZE

Kontakt nach Osten

Das 1951 gegründete Osteuropa-Institut ist eines der drei Regional-Institute der FU, das sich transdisziplinär mit einer Weltregion beschäftigt – von Osteuropa im engeren Sinne bis zu den Staaten Ostmitteleuropas hin zu Südosteuropa und dem Balkan.

Das OEI gliedert sich in drei Arbeitsbereiche, Geschichte und Kultur; Politik und Soziologie sowie Recht und Wirtschaft. Außerdem besitzt das OEI eine Forschungsdozentur „Konfliktforschung und Stabilitätsexport“. Das OEI bietet den Masterstudiengang Osteuropastudien und den englischsprachigen Fernstudiengang East European Studies an.

Nach der Wende wurde die Slawistik der Freien Universität an die Humboldt-Universität verlegt. Das OEI arbeitet eng mit den dortigen Professoren für neuere Osteuropäische Geschichte (Jörg Baberowski) und Ostmitteleuropäische Geschichte (Günther Schödl) zusammen. Auf Grund der regionalen Lage Berlins soll die Attraktivität des Wissenschaftsstandorts Berlin mit seinen hervorragenden Bibliotheken und vielfältigen Kontaktmöglichkeiten zu Osteuropa für Interessenten der Osteuropäischen Geschichte gewährleistet und ausgebaut werden. (fva)