Springe direkt zu Inhalt

Passt die Türkei in die EU?

Eine Studie über kulturelle Unterschiede der heutigen, künftigen und potenziellen EU-Länder


Über 40 000 türkische Unternehmen in Deutschland, 720 Millionen verspeiste Döner-Kebab pro Jahr, Sommerurlaub am Bosporus und beste TV-Einschaltquoten für Comedy in „Kanak Sprak“ – türkische Kultur ist in weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung zum akzeptierten Bestandteil ihres Alltags geworden. Doch so sehr die Deutschen ihre türkischen Mitbürger in das tägliche Leben integriert haben: Dem Beitritt der Türkei in die Europäische Union steht die Mehrheit nach wie vor skeptisch gegenüber.

Die möglichen Ursachen dieser Diskrepanz untersucht der Soziologe Jürgen Gerhards, seit 1. Oktober dieses Jahres Professor am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin. Das Forschungsfeld des 49-Jährigen beschränkt sich dabei nicht auf die Beziehung der Deutschen zur Türkei, sondern umfasst sämtliche Mitglieds- sowie potenziellen Beitrittsländer der Europäischen Union. Unter der zentralen Fragestellung „Passt die Türkei kulturell zur EU“ untersucht Gerhards die Wertvorstellungen der EU-Bürger, deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede – und ob diese sich mit den kulturellen Werten der Türkei vereinbaren lassen.

Viele EU-Mitgliedsstaaten hegen Bedenken gegen den Beitritt des östlichen „Nachbarn“. Neben Vorbehalten gegenüber der Rechtsstaatlichkeit der türkischen Regierung ist das Hauptargument der Beitrittsgegner, dass die europäischen Arbeitsmärkte die Öffnung der Grenzen der Türkei nicht verkraften können.

Gerhards Studienergebnisse bringen einen weiteren Aspekt in die Diskussion: Kulturelle Barrieren könnten die Integration der Türkei erschweren. Bei allen Unterschieden der EU-Mitgliedsländer – Franzosen haben andere Werte als Deutsche, Spanier andere als Schweden – lassen sich bestimmte Basis-Werte heraus kristallisieren, die sämtliche Länder miteinander teilen: In ihrer Einstellung zu Religion, Wirtschaft, Staatsform, Familie oder Gleichberechtigung von Frau und Mann „ticken“ sie ähnlich. Viele kulturelle Werte in der Türkei dagegen unterscheiden sich derzeit grundlegend von den Wunschvorstellungen der Bürger der EU-Länder. Das kann zu Spannungen führen.

In seiner empirischen Studie unterschied Gerhards vier Gruppen: Die 15 „alten“ EU-Gründungsstaaten, die am 1. Mai 2004 beigetretenen zehn „neuen“ Länder, die beiden künftigen Mitgliedsstaaten Bulgarien und Rumänien sowie die Türkei als potenzieller Beitrittskandidat. Als Vergleichmaßstab für die Untersuchung der kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zog der Wissenschaftler die in der Verfassung der Europäischen Union formulierten Werte heran.

Der Vergleich der Wertvorstellungen der einzelnen Ländergruppen zeigt eine hohe Akzeptanz der EU-Werte bei den 25 alten und neuen Mitgliedsländern des Staatenbundes. Etwas geringere Unterstützung erhalten sie von Rumänien und Bulgarien, den beiden Ländern der neuen Beitrittsrunde. „Vor allem die Türkei weicht aber in vielen Wertebereichen von den Wunschvorstellungen der EU ab“, erklärt Gerhards.

Die Mehrheit der EU-Bürger wächst zwar mit dem christlichen Glauben auf, für das tägliche Leben hat Religion jedoch eine eher geringe Bedeutung. Dementsprechend hoch ist die Toleranz gegenüber Andersgläubigen – und der Wunsch nach der Trennung von Politik und Religion. Anders in der Türkei: Die überwiegend gläubigen Muslime räumen der Religion einen hohen Stellenwert in ihrem Leben ein, auch in der Politik: Ein Großteil vertritt die Auffassung, dass politisches Handeln religiös angeleitet sein soll. Die Toleranz gegenüber anderen Glaubensrichtungen ist eher gering.

Ähnlich gravierende Unterschiede zeigen sich in Fragen der Gleichberechtigung: Laut EU-Verfassung sind Frau und Mann im Berufsleben gleichgestellt. Frauen sollen sich durch eigene Berufstätigkeit ihre Unabhängigkeit sichern können – eine Auffassung, die zwei Drittel der EU-Bürger und 60 Prozent der Rumänen und Bulgaren teilen. In der Türkei dagegen beantwortet nur ein Drittel die Frage „Haben Männer eher Recht auf einen Arbeitsplatz, wenn die Arbeit knapp ist?“ mit „Nein“.

In einem wichtigen Punkt sind sich jedoch alle weitgehend einig. Die deutliche Mehrheit der Bürger schätzt die Demokratie als beste Staatsform: 93,5 Prozent in den bestehenden EU-Ländern, 87,9 Prozent in der Türkei. Allerdings ist bei letzteren auch der Wunsch nach autoritärer Führung stark ausgeprägt: Drei Viertel der Befragten befürworten eine mächtige, von Parlament und Wahlen unabhängige Führung – drei Mal mehr Menschen als in den bestehenden EU-Ländern.

Bei allen Unterschieden: „Wertorientierungen sind keine festen statistischen Größen, sondern können sich wandeln. Gerade die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein gutes Beispiel dafür“, gibt Gerhards zu bedenken. Zumal die Türkei in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen habe, demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien zu institutionalisieren – die Minderheitenrechte seien gestärkt worden, die Todesstrafe abgeschafft.

Prozesse des Wertewandels hängen jedoch von einer Vielzahl günstiger Rahmenbedingungen ab und benötigen in der Regel eine lange Zeit. „Leicht wird der Prozess einer kulturellen Angleichung der Türkei an die Werteordnung der EU nicht werden“, ist Gerhards Schlussfolgerung. Doch letztendlich werden in der politischen Entscheidungsfindung weniger kulturelle, sondern in erster Linie außenpolitische Faktoren den Ausschlag pro oder contra Türkeibeitritt geben.

Von Marion Jüstel