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Der Versuch, das Unscharfe zu fassen

Der Direktor der Hertie School of Governance Michael Zürn lehrt am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität

Selten erhält ein Politikwissenschaftler die Chance, sein politisches Grundkonzept als akademischer Direktor einer neu gegründeten Hochschule in die Tat umzusetzen. Michael Zürn hat sie bekommen. Seit dem 1. Oktober 2004 ist der umtriebige Schwabe Direktor der ehrgeizigen Hertie School of Governance, der privaten Hochschule, die sich nach langem Anlauf im ehemaligen Staatsgebäude in Mitte eingerichtet hat. Und als wäre die Herausforderung für Zürn nicht groß genug, leitet er am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) die Abteilung „Transnationale Konflikte und Internationale Institutionen“ und lehrt außerdem am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität. „Ich werde mich in den kommenden drei Jahren vor allem um den Aufbau der Hochschule kümmern,“ erzählt der 45-jährige Familienvater, das sei sowohl mit dem Wissenschaftszentrum als auch der Freien Universität vertraglich vereinbart. Schon der erste Satz des mission statements enthält die Philosophie der Hochschule, die als Eliteschmiede gehandelt wird: „The purpose of the Hertie School of Governance will be to train exceptionally talented students for public leadership positions,“ erklärte Michael Zürn bei der Eröffnungskonferenz der Hertie School: „Die Rolle des Staates im 21. Jahrhundert“ im Weltsaal des Auswärtigen Amts in Beisein von Bundeskanzler Gerhard Schröder.

Tatsächlich hat die private Hertie-Stiftung die imposante Summe von 25,6 Millionen Euro bereitgestellt, um nach dem angelsächsischen Vorbild und unter Berufung auf die Kennedy School of Government aus Harvard/Cambridge eine private Hochschule für Führungskräfte in Verwaltung und Politik ins Leben zu rufen. Dahinter steht als Grundüberzeugung, die für Zürn unstrittige These, dass der Einfluss von hierarchisch organisierten Regierungen (government) abnehme und die Verantwortung zunehmend an horizontal ausgerichtete und auf internationaler Ebene agierende Kooperationen und gesellschaftliche Verbände übergehe (governance).

„Regieren jenseits des Nationalstaats“ hieß provokant das Buch Zürns, in dem er das Projekt einer komplexen Weltregierung beschrieb. „Der nationale Staat und die nationale Regierung büßen immer mehr zugunsten von internationalen Institutionen an Macht und Einfluss ein,“ wiederholt Michael Zürn seine Kernthese in seinem funkelnagelneuen Büro im Wissenschaftszentrum.

Dadurch setze eine Politisierung internationaler Institutionen ein, die zunehmend auch nach ethischen Grundsätzen in „gut“ und „schlecht“ eingeteilt würde. „Schauen Sie sich doch den Unilateralismus der Bush-Regierung an und den permanenten Versuch der Amerikaner, den Einmarsch im Irak vor der Weltöffentlichkeit zu rechtfertigen,“ sagt Zürn. In Kürze erscheint sein Buch über die Regelbefolgungen auf unterschiedlichen politischen Ebenen. In dem auf Englisch publizierten Werk kommt der Politikwissenschaftler zu dem Ergebnis, dass vor allem in der Europäischen Union Vorschriften vorbildlich eingehalten werden. „Die Europäische Union steht gar nicht so schlecht da,“ äußert Zürn, dem bei aller Bereitschaft von der Neuen Welt zu lernen auch eine Begeisterung für Europa anzumerken ist. Denn, so Zürn, schließlich werde auf europäischer Ebene schon beispielhaft die Politisierung internationaler Institutionen praktiziert.

Dennoch könne Europa gerade im universitären Bereich von Amerika lernen, wie es die Hertie School ab dem Wintersemester 2005/06 versuchen wird. „Derzeit läuft gerade noch das Auswahlverfahren für die ersten dreißig international ausgeschriebenen Master-Studienplätze,“ erzählt Zürn. Auch das Verfahren für die ersten acht hauptamtlich berufenen Professoren sei noch in vollem Gange. Das Ziel für die staatlich anerkannte Hochschule ist indessen hoch gesteckt: „The Hertie School of Governance is to become a recognizably European institution in the heart of Europe, but one that stands out as a beacon of excellence in public policy education across Europe and beyond.“ Später möchte Zürn erreichen, dass die Freie Universität und die Governance-School bei der Betreuung von Dissertationen eng zusammenarbeiten.

Der Begriff „governance“ den der Zeit-Redakteur Gunter Hofmann jüngst noch als „Versuch das Unscharfe zu fassen,“ charakterisierte, bildet das musikalische Leitmotiv für Zürns wissenschaftliche Karriere. Schon der Tübinger Student begeisterte sich für internationale Politik, weshalb er sein Auslandsjahr in Denver an einer entsprechenden graduate school verbrachte. Nach der Assistentenzeit in Tübingen holten die bekannten Politologen Robert O. Keohane und Joseph S. Nye den jungen Zürn an die Kennedy School, die er erst 34-jährig und ohne Habilitation 1993 für die renommierte C-4-Professur für internationale Politik an der Universität Bremen verließ. Sicher sei es ihm nicht leicht gefallen, Bremen nach fast zehn Jahren zu verlassen, zumal er dort seit einem Jahr Sprecher des DFG-Sonderforschungsbereichs 597: „Transformationen von Staaten“ sei. Doch seine neuen Aufgaben in Berlin seien einfach zu reizvoll, um an diesem „für Politologen einmaligen Ort“ die Angebote auszuschlagen. Schließlich kann er von seinem neuen Arbeitsplatz der deutschen Regierung beim Regieren zusehen, beobachten, ob Deutschland aus seiner Lähmung und Erstarrung herausfindet und das Standvermögen Schröders bewundern, der immerhin erkannt habe, dass der Wohlfahrtsstaat in Deutschland von anderen Zukunftsmodellen abgelöst werden müsse. Ob er sich selbst gerne politisch betätigen wolle? „Nein, um Gotteswillen,“ rutscht es ihm rasch heraus, er wolle etwas anderes, nämlich begabte junge Studierende praxisbezogen auf die veränderten Bedingungen in Politik und Verwaltung vorbereiten. Gelegenheiten dazu hat er viele. Ab kommendem Sommersemester wird der Direktor der Hertie School ein Doktoranden-Kolleg an der Freien Universität leiten.