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Wenn Menschen gewohnte Bahnen verlassen

Der Erziehungswissenschaftler Arnd-Michael Nohl untersucht Arbeitsmarktchancen von hoch qualifizierten Migranten

 

Für einen Erziehungswissenschaftler besitzt Arnd-Michael Nohl eine bemerkenswerte Qualifikation: Er spricht fließend Türkisch. Schon während des Zivildienstes brachte er sich die Sprache des Volks am Bosporus bei, auf der Suche nach neuen Erfahrungen und Freundschaften. Später studierte er Erziehungswissenschaften, Islamwissenschaften und Psychologie in Heidelberg, an der Hacettepe-Universität Ankara sowie der Freien Universität Berlin, wo er am Fachbereich Erziehungswissenschaft seine ungewöhnlich weit gestreuten Themen fand. Die Migrationsforschung über türkische Jugendliche lag ihm besonders am Herzen. Ihr widmete er erst seine Magister-, später seine Doktorarbeit. Um zu untersuchen, was als „typisch“ für die Migrationskultur türkischer Jugendlicher in Deutschland anzusehen sei, setzte der 1968 in Gießen Geborene auf den Vergleich:

„Ich habe drei Gruppen von Jugendlichen gegenüber gestellt: Jugendliche in der Türkei, deutsche Jugendliche und türkische Heranwachsende in Deutschland,“ erzählt Nohl. Bei den jungen Männern der zweiten Einwanderungsgeneration aus der Türkei beobachtete Nohl eine klare Trennung in zwei unterschiedliche Sphären ihres Lebens: die türkische Familie und die deutsche Außenwelt, die in der Regel kaum Berührungspunkte miteinander hätten. „Dies gilt durchaus in beide Richtungen,“ meint der Pfarrerssohn: „Die deutschen Lehrer dieser Jugendlichen ignorieren in der Regel die türkische Familie, während die türkischen Eltern sich für ihre Kinder weder im Kindergarten, noch in der Schule oder in der Lehre einsetzen.“

Diese türkischen Migrantenkinder seien deshalb in ihrem Bildungsprozess in Deutschland weit gehend auf sich alleine gestellt – so ein Ergebnis seiner im Jahr 2000 an der Freien Universität abgeschlossenen Promotion. Den Aufstieg durch Bildung nutzen vor allem türkische Mädchen, deren Prozentsatz unter den Gymnasiasten höher liegt als bei ihren männlichen Altersgenossen

„Beim ersten Kontakt mit Jugendlichen türkischer Herkunft war es sehr günstig, dass ich mich auf Türkisch unterhalten kann“, sagt Nohl, und erinnert sich an eine Gruppendiskussion nach dem Brandanschlag von Solingen, als sich die jungen Türken zunächst weigerten, mit einem Deutschen oder Deutsch zu sprechen. Seine Kenntnisse der türkischen Mentalität und Kultur intensivierte der 36-jährige Juniorprofessor während eines einjährigen Aufenthalts als DAAD-Stipendiat in der türkischen Hauptstadt, wo er über die ökologische Erziehung in NGO´s forschte. „Ich hatte fast ausschließlich türkische Freunde, mit einigen von ihnen habe ich bis heute engen Kontakt“, erinnert sich Nohl an sein damaliges Leben. Auch in der Universität fühlte er sich gut betreut. In Ankara lernte er seine spätere Frau, eine türkische Zahnärztin kennen. Inzwischen leben beide in Berlin, wo Nohl seit Oktober 2004 eine Juniorprofessur am Arbeitsbereich für interkulturelle Erziehungswissenschaft innehat. „Bei meiner Forschung ist mir zum einen die Ausbildung in qualitativen Forschungsmethoden wichtig, zum anderen möchte ich Fragen und beispielhafte Probleme der interkulturellen Bildung mit Themen der allgemeinen Pädagogik verbinden.“ Für seine an der Universität Magdeburg entstandene Habilitation verabschiedete sich Nohl zunächst von der Migrationsforschung und untersuchte den Zusammenhang zwischen „Bildung und Spontaneität“ in verschiedenen Lebensphasen: Auf der einen Seite die 35-jährige ehemalige Verkäuferin, die sich in ein Ladenlokal am Prenzlauer Berg verliebt und beschließt, dort eine Grafikdesignagentur zu eröffnen, auf der anderen Seite die Magdeburger Seniorin, die in der Rente und nach der Familienphase das Internet als Kommunikationsplattform entdeckt. Nohl interessiert, was Menschen veranlasst, traditionell von Gesellschaft und Familie vorgegebene Bahnen zu verlassen und neue Wege einzuschlagen. „Der Flow, der Schwung, den diese Menschen in ihren neuen Tätigkeiten erleben, hat eine befreiende, katalysatorische Wirkung.“

Vor kurzem hat die VW-Stiftung für drei Jahre einer interdisziplinären Studiengruppe um Nohl 650 000 Euro bewilligt, damit geklärt wird, warum die Eingliederung hoch qualifizierter Migranten in den deutschen Arbeitsmarkt kompliziert verläuft und das kulturelle Kapital von Migranten in Deutschland ungenutzt bleibt. Durch einen Ländervergleich mit Kanada, Großbritannien und der Türkei wollen die Forscher unterschiedliche rechtlich-politische Rahmenbedingungen aufzeigen und innovative Strategien für die Arbeitsmarktintegration in Deutschland entwickeln. „Die Arbeit der Studiengruppe begleitet ein Projektbeirat, in dem unter anderem Max Stadtler und Cem Özdemir sitzen.“ Bei der groß angelegten Studie interessieren auch Fragen institutioneller und informeller Diskriminierung. „Wird zum Beispiel eine Türkin, die während ihrer Bürozeit Kopftuch trägt, gegenüber anderen Mitarbeiterinnen diskriminiert?“ fragt Nohl und wir sind gespannt auf die Antwort.

Die VW-Stiftung fördert mit 650 000 Euro die Studiengruppe zum Thema: „Kulturelles Kapital in der Migration. Zur Bedeutung von Bildungs- und Aufenthaltstiteln während der Statuspassage in den Arbeitsmarkt.“ Der Studiengruppe gehören neben Arnd-Michael Nohl, Karin Schittenhelm (Universität Siegen), Oliver Schmidtke (University of Victoria, Canada) und Anja Weiß (Bundeswehrhochschule München) an.

Von Felicitas von Aretin