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Das wichtigste Gis im ganzen Stück

Das Collegium Musicum führt Studierende in fünf Ensembles bis zur Konzertreife


Das Cello ist zuerst da. Auf der Bühne, inmitten von Stuhlreihen und Notenständern, übt sein Besitzer lange vor Probenbeginn. Die zaghaft erzeugten Töne tragen weit, bis an die hohen Wände des Audimax im Henry-Ford-Bau hinauf. „So Leute, auf geht's!“, schallt es durch den Saal. Dirigent Manfred Fabricius durchquert den Raum mit schnellem Schritt. Zur Bekräftigung klatscht der 54-Jährige zwei Mal in die Hände. Es wirkt. Die wartenden Musiker strömen nach vorn, beginnen mit dem Einstimmen.

Es ist gleich halb sieben am Abend. Wer jetzt noch auf dem Campus unterwegs ist, hat gute Gründe, aber keine Pflichten mehr. Wer bleibt, weiß, dass in der Garystraße die Muse zu Hause ist. Montags probt hier der Kammerchor, dienstags der Große Chor und fast zeitgleich die Bigband in der Boltzmannstraße, mittwochs das kleine sinfonische Orchester und jeden Donnerstag das Sinfonieorchester.

Alle fünf Ensembles bilden zusammen das „Collegium Musicum vocale et instrumentale der Berliner Universitäten FU/TU“ – eine der größten Laienmusikervereinigungen der Stadt. Seit über fünfzig Jahren widmen sich Studierende aller Fachrichtungen in ihrer Freizeit als Sänger oder Musiker der Musik. Im Schlagschatten der Berliner Klassikmusikszene rund um Sir Simon Rattle und Co. sind fast 400 Mitglieder höchst aktiv, und zwar erfolgreich: Bei ihrem letzten Konzert im Februar im ausverkauften Großen Saal der Philharmonie lösten sie Begeisterungsstürme beim Publikum aus.

Jetzt proben die Studierenden unter der musikalischen Leitung von Manfred Fabricius für den großen Wurf. Die Oper „Mephisto“ von Arrigo Boito wird Anfang Juli in der Philharmonie als konzertante Aufführung mit szenischen Einlagen gezeigt. Es ist nach Bizets „Carmen“ 1998 die zweite Oper des Collegiums. „Wir haben diese Oper gewählt, weil sie besonders den Chor fordert und nicht nur einzelne Sänger“, erklärt Geschäftsführer Bernhard Wyszynski und verrät damit auch etwas über die Philosophie des Collegiums: Musizieren ist eine Gemeinschaftsleistung. Jeder, der sich für die Musik engagiert, soll mitmachen können – und bei den traditionellen Semesterabschlusskonzerten und anderen Auftritten Applaus ernten dürfen.

Mit eben diesem Hintergedanken, dass „sich alle von ihrer besten Seite zeigen können“ sollen, trat Manfred Fabricius 1989 als Chorleiter und Dirigent an. Er gründete zusätzlich den Kammerchor und das kleine sinfonische Orchester. In letzteres kommen Neueinsteiger in der Regel ohne Vorspiel. Wer hingegen in einem der Chöre oder im Sinfonieorchester mitmachen möchten, muss sein Können vorab unter Beweis stellen. Neueinsteiger hätten dabei gute Chancen, versichert Wyszynski. Nicht zuletzt durch die intensive Arbeit an den deutschen Musikschulen habe es im Orchester einen stärkeren Zustrom von musikalisch gut ausgebildeten Studierenden gegeben.

Dass ein künstlerisch und organisatorisch so anspruchsvolles Werk wie „Mephisto“ innerhalb weniger Monate erarbeitet und aufgeführt werden kann, ist dem überdurchschnittlichen Engagement der von dem Gemeinschaftswerk Musik überzeugten Männer Manfred Fabricius und Bernhard Wyszynski zu verdanken und ihren ehrgeizigen studentischen Mitstreitern.

Doch bis der erste Ton der Oper in der Philharmonie erklingt, liegt noch jede Menge Arbeit vor allen Beteiligten. Unter den rund 90 Musikern des Sinfonieorchesters fällt einer ganz besonders ins Auge: Wolfgang Bruns ist kein Kommilitone wie alle anderen, jedenfalls nicht mehr. In den 1950er Jahren hat der heute 73-Jährige an der Freien Universität Chemie studiert. Als Klavierspieler trat er damals dem Orchester bei. Nur, „es gab nicht viel zu tun für Klaviere“, erinnert er sich. Zum Kontrabass griff der ehemalige TU-Professor erst, als er in Pension ging. Nach einem Jahr des Probens war er soweit. Mit seinem zehn Kilo schweren Instrument trat Bruns als ältestes Mitglied ein zweites Mal in das Collegium Musicum ein. Wolfgang Bruns ist eine Ausnahme, gewiss. Ganz in seiner Nähe sitzt die mit 19 Jahren jüngste Musikerin. Julie Sammet ist erst kürzlich aus Bayreuth nach Berlin gekommen. Sie erzählt, dass sie den Kontrabass bei einem Musiklehrer zu spielen lernte, der das Instrument selbst nicht beherrschte. Warum Kontrabass? „Weil ich die tiefen Töne lieber mag“, erklärt sie und ergänzt kurz darauf: „Die Geigen haben viel mehr zu tun, ich kann auch mal zuhören und das Orchester auf mich wirken lassen“.

Wer bei einer Probe Mäuschen spielt, erlebt sie vielleicht so: Manfred Fabricius hebt den Taktstock. Klarinetten und Celli stimmen eine wehmütige Melodie an. Tschaikowskis „Fantasie-Overtüre“, die vertonte Geschichte von Shakespeares „Romeo und Julia“, erklingt. Lang gezogen und leise erst, bis die Violinen die Klage aufnehmen, sie verstärken. Binnen kurzem erzeugen die Streicher beim Zuhörer ein angenehmes Frösteln. Dann hebt die Querflöte zu ihrem ersten Solo an. Zart und kraftvoll zugleich spinnt sie die Tragödie weiter.

Das Orchester spielt und Fabricius dirigiert. Sehr aufrecht steht er da. Seine Bewegungen sind aufmerksam routiniert. Manchmal verlagert er das Gewicht während einer Geste von einem Fuß auf den anderen. Wenn er die Arme in diesen Momenten über den Kopf hebt, wirkt er tänzerisch.

Der Dirigent ist mit den Ohren überall. Er hört die hastig gespielten Sechzehntel oder die verschluderten halben Pausen. Mit den Händen fordert er Einsatz: Von den Hörnern, den Violinen, von der Oboe und den Klarinetten. Manfred Fabricius hat viele Gesten für diese Aufforderung. Mal macht er eine schnelle Drehung aus dem Handgelenk, die in einem Fingerzeig mündet. Mal spreizt er drei erhobene Finger der linken Hand ab. Dann wirbt er mit der gewölbten Hand, die er vor der Brust kreisen lässt. Niemand soll seinen Einsatz verpassen. Das Tempo nimmt zu. Man hört es nicht nur, man sieht es dem Dirigenten an. Mit dem ganzen Körper arbeitet er sich durch die Partitur. „Kommt schon“ signalisiert er den Spielern, während er umblättert. Seine Finger flirren, fordern eindringlich, mehr zu geben.

„Aha“, sagt er, als das erste Stück nach einer Viertelstunde endet. Es klingt wie eine Diagnose. Mit den Händen in den Hosentaschen überlegt er kurz und sagt: „Ich glaube, ich muss nichts groß kommentieren.“ Die freundschaftliche Mahnung geht an die Bläser. „Hört genau auf die Streicher, ich brauche euren Einsatz auf eins und auf drei. Mir scheint, ihr seid etwas zu schnell.“

Was eben noch im Stück war, wird nun scheibchenweise auseinander genommen. Alle Instrumente werden an ihre speziellen Stolperstellen geführt. Fabricius erläutert, singt vor, wie es klingen muss, lässt üben. Dazwischen kommentiert er. „Die vier Takte müssen ordentlich ins Crescendo geschoben werden“, heißt es. Oder er stoppt nach wenigen Sekunden: „Die Synkope kommt zu spät“. Der 54-Jährige formuliert Aufforderungen als höfliche Fragen. Er sagt: „Bratschen, können wir an der Stelle noch einmal wiederholen?“ Manchmal spricht er Musiker direkt an: „Lars, darf ich dir mal vorsingen, wie es klingen soll?“ Immer wieder gibt er den Einsatzort in den Notenblättern neu an. „Zwei vor Emil“ oder „drei vor Dora“ oder „fünf nach Karl“ heißt es dann. Die Spieler üben energisch, sie verstehen, was ihr Dirigent von ihnen will. Fabricius lauscht und lobt. „Spielt mal dieses Gis, das ist eines der wichtigsten Gisse im ganzen Stück. Das muss man hundert Meter weit hören können“, bittet er die Blechbläser.

Drei Stunden lang arbeiten sich die Sinfoniker durch das Programm. Dann ist Schluss. Julie verpackt ihren Kontrabass, das Instrument lässt sie an der Uni – bis zur nächsten Probe in einer Woche.
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COLLEGIUM MUSICUM

Für Studierende aller Fachrichtungen


Wer im neuen Semester nicht nur studieren, sondern auch musizieren möchte, ist in den fünf Ensembles des Collegium Musicum herzlich willkommen. Je nach musikalischer Erfahrung und Neigung können sich Studierende in die verschiedenen Formationen von Bigband, Chor oder Orchester einbringen. Geprobt wird einmal wöchentlich im Semester.

Für den Sommer bereitet das Collegium Musicum die Oper „Mephisto“ von Arrigo Boito vor. Sie wird am 2. und 3. Juli 2005 in der Philharmonie als konzertante Aufführung mit szenischen Einlagen gezeigt. Beteiligt sind außer den Solisten der Große Chor und das Sinfonieorchester. Karten für 9 bzw. ermäßigt 6 Euro sind ab sofort über die Geschäftsstelle erhältlich.

Das Collegium Musicum ist eine Einrichtung an den beiden Berliner Universitäten FU und TU. An beiden Hochschulen hatten sich nach 1945 zunächst eigenständige Ensemble mit dem Namen Collegium Musicum gegründet. Im Jahr 1954 wurden sie dann zum „Collegium Musicum vocale et instrumentale der Berliner Universitäten FU/TU“ vereinigt. Heute besteht es aus fünf Ensembles: Großer Chor, Kammerchor, Sinfonieorchester, Kleines Sinfonisches Orchester und Bigband. Die 400 Mitglieder sind Studierende aller Fachrichtungen, die sich in ihrer Freizeit der Musik widmen. Neben den Auftritten zu akademischen Feiern führen die Musiker und Sänger zu Semesterabschluss Konzerte, u.a. in der Philharmonie, auf.

Nähere Informationen und Kartenvorbestellung: Bernhard Wyszynski, Tel. 030 / 83 85 40 47, E-Mail: buero@collegium-musicum.tu-berlin.de, http://collegium-musicum.tu-berlin.de/

Von Anke Assig