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Erforschung semitischer Völker „unerwünscht“

AKTIONSWOCHE Krieg und Frieden – die Lage der Wissenschaft nach 1945

Das „Dritte Reich“ fügte den Wissenschaften vom Alten Vorderen Orient nachhaltigen Schaden zu

Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933, die Jahre der Diktatur und schließlich der Zweite Weltkrieg haben den Wissenschaften vom Alten Vorderen Orient in Deutschland nachhaltigen Schaden zugefügt. Das Fach hat hervorragende Gelehrte, Organisatoren, Lehrer und junge Nachwuchswissenschaftler verloren. Institute, Bibliotheken und Forschungsmaterialien wurden zerstört, die für die Forschung so wichtigen internationalen Kontakte reduziert oder gar unterbrochen, der Zugang zu den Originalen eingeschränkt und unmöglich gemacht. Andererseits scheint ungeachtet dieser extremen Zäsur – auch im Rückblick – die Geschichte des Faches von Kontinuität geprägt. Der Grund: Man versuchte sich unter allen Umständen auf den Forschungsgegenstand „an sich“ zu beschränken. Die Assyriologie oder Altorientalistik erforscht Geschichte, Sprachen und Kulturen des Alten Vorderen Orients zwischen 4000 v. Chr. und der Zeitenwende. Sumerer, Akkader, Hethiter, Elamer, Hurriter, Babylonier, Assyrer – das sind Namen, die für die lange untergegangenen frühen Hochkulturen dieser Region stehen. Archäologische Ausgrabungen haben Architektur, Gegenstände des täglichen Bedarfs ebenso wie prestigiöse Kunstwerke und Hundertausende von Texten ans Tageslicht gebracht. Auf diese Weise kommt nicht nur ein gewaltiger geografischer Raum, sondern auch ein geschichtlicher Horizont in den Blick, der Jahrtausende vor die Geschichte Europas und des Mittelmeerraumes der Bibel zurückführt. Die ersten Städte wurden im Vorderen Orient gegründet, erste Formen des Staates erprobt, erstmals die Schrift gefunden, Grundformen von Literatur und Wissenschaft entwickelt. Doch wie verhält sich ein solches Fach zur Gegenwart, zur Politik und Zeitgeschichte?

Die Altorientalistik ist eine junge Disziplin. Bis weit in das 19. Jahrhundert war über die Völker und Kulturen an Euphrat und Tigris, in Anatolien und Iran nur wenig in der damaligen Wissenschaft bekannt. Interessierten sich zunächst Reisende und gelehrte Abenteurer für die Ruinenfelder Mesopotamiens, geriet der Nahe Osten im Laufe des 19. Jahrhunderts in das Blickfeld europäischer Macht- und Wirtschaftspolitik. Die wissenschaftliche Erforschung profitierte von dieser Entwicklung und dem einsetzenden (kultur)politischen Wettstreit mit England, Frankreich und den Vereinigten Staaten. 1875 wurde in Berlin der erste Lehrstuhl für „Assyriologie“ eingerichtet, andere Universitäten folgten. Die 1899 gegründete Vorderasiatische Abteilung der Königlich-Preußischen Museen zu Berlin präsentierte Staunen erregende Funde. Sie stimulierten eine überaus rege, kontrovers geführte Debatte über die Bedeutung dieser Funde nicht nur für die europäische Geistes- und Kulturgeschichte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es im Deutschen Reich zwölf altorientalistische Lehrstühle. Nicht nur Altertumswissenschaftler, Theologen und Historiker, sondern auch die interessierte Öffentlichkeit nahm lebhaften Anteil an den Forschungen zum Alten Orient.

Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten erfuhr die Altorientalistik eine deutliche Abwertung – der semitischen Völker wegen, die sie hauptsächlich erforschte. Drei Lebenswege mögen in ihrer Unterschiedlichkeit den Umgang mit der neuen Situation illustrieren. Etwa ein Drittel der Assyriologen war, da jüdischer Abstammung, unmittelbar von Arbeitsverbot, Diskriminierung, Entlassung aus dem Staatsdienst, Inhaftierung und Vertreibung betroffen. Andere Kollegen mussten aufgrund ihrer politischen Einstellung und Betätigung das Land verlassen. Eine wichtige Rolle als Übergangs- wie Aufnahmeland spielte die Türkei, denn an der auf Initiative Kemal Atatürks neu gegründeten Universität in Ankara fanden eine ganze Reihe von Forschern Aufnahme. Die überwiegende Zahl der Assyriologen führte die Vertreibung schließlich in die Vereinigten Staaten. Stellvertretend für viele mag hier Benno Landsberger stehen, seit 1929 Ordinarius in Leipzig. Landsberger musste aufgrund der nationalsozialistischen Rassengesetze die Leipziger Universität verlassen. Er emigrierte zunächst in die Türkei, wo er als Ordinarius in Ankara lehrte und forschte, später ging er nach Chicago an das Oriental Institute.

Einige Fachvertreter haben mit dem nationalsozialistischen Gedankengut sympathisiert. Mitgliedschaft in verschiedenen Parteiorganisationen und Versuche, die eigenen Forschungen in den Dienst der herrschenden Theorien zu stellen, belegen dies. Nationalsozialistische Rassenideologie und völkische Kulturgeschichte prägen manche assyriologische Veröffentlichung, wie etwa die eines der brillantesten Schülers von Benno Landsberger, der Altorientalist Wolfram von Soden, der mit 28 Jahren bereits außerordentlicher Professor in Göttingen war. Er war 1934 der SA, 1937 der NSDAP beigetreten; zwei Veröffentlichungen zu altorientalischer Geschichte und Geistesgeschichte aus den späten 30er Jahren sprechen eine deutliche Sprache. Die Einberufung in die Wehrmacht im Jahr 1940 verhinderte die Annahme des Rufes auf den Berliner Lehrstuhl. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde von Soden zunächst aus politischen Gründen die Wiedereinsetzung in den Universitätsdienst verweigert. Doch die außerordentliche Qualität seiner wissenschaftlichen Arbeit stand außer Frage und nicht nur sein Lehrer Landsberger setzte sich aus dem amerikanischen Exil für von Soden ein. 1955 erhielt von Soden einen Ruf nach Wien, später nach Münster.

Landsbergers Nachfolger in Leipzig wurde 1936 Johannes Friedrich, dessen Interesse vor allem der Hethitologie, der Erforschung der Hethiter, galt. Obwohl bei seiner Berufung der Hinweis auf diese ältesten indogermanischen Sprachträger als Argument herangezogen wurde, hat Friedrich – soweit man sieht – weder sich noch seine wissenschaftliche Arbeit in den Dienst nationalsozialistischer Ideologie gestellt. 1948/49 amtierte er als Rektor der Leipziger Universität, 1950 wurde er der erste Ordinarius für Altorientalistik am neu gegründeten Orient-Institut der Freien Universität Berlin.

Durch die Ereignisse nach 1933 war die Generation der Lehrer so stark dezimiert, dass eine geordnete Ausbildung unter den gegebenen Umständen nicht möglich war. Ab 1940 wurden Assyriologen auch ihrer Sprach- und Landeskenntnisse wegen in der Wehrmacht dienstverpflichtet. Der Krieg kostete viele von ihnen das Leben. Bis weit in die fünfziger Jahre hinein fanden Lehre und Forschung in Deutschland unter extremen Einschränkungen statt. 1960 zählte man in beiden deutschen Staaten nur fünf ordentliche Professuren. Von den Emigranten und Vertriebenen kehrte – trotz ergangener Rufe – keiner nach dem Ende der Nazi-Herrschaft nach Deutschland zurück. Doch haben sie sich – ein beachtlicher Fall in der Wissenschaftsgeschichte – vom Ausland her für den Erhalt und neuerlichen Ausbau des Faches im Nachkriegsdeutschland eingesetzt. Eine ganze Generation von „Enkelschülern“ aus Deutschland erhielt Gelegenheit, in den Vereinigten Staaten zu lernen und zu forschen. Über diesen Umweg fand die Disziplin in der Bundesrepublik Anschluss an aktuelle Fragestellungen und Methodendiskussionen, z.B. die Erforschung der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte als Bestandteil von Kulturgeschichte. In der DDR führte die Ausrichtung der Altertumswissenschaften auf die marxistisch-kommunistischen Theorien zu einer Verlagerung der thematischen Forschung in Richtung auf Sozial- und Gesellschaftsgeschichte.

Die Beschränkung auf die scheinbar unpolitische reine Philologie, das Entziffern, Abschreiben und Übersetzen von Originaldokumenten ging im Nachkriegsdeutschland mit einem Rückzug des Faches und seiner Gegenstände aus der öffentlichen Wahrnehmung einher.

Heute leistet die Altorientalistik interdisziplinär eingebunden ihren Beitrag zur Erforschung der Kulturgeschichte der Menschheit.

Von Eva Cancik-Kirschbaum, die Autorin lehrt als Professorin altorientalische Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin.