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Wiederentdeckung der Wirklichkeit

Politik und Wissenschaften vor der Bundestagswahl


Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt: Diese unverwüstliche Straßenweisheit ist eigentlich gar nicht nach dem Geschmack der Wissenschaft. Denn Wissenschaftler lassen sich nicht gerne überraschen, sie streben nach der Erkenntnis von Gesetzen, aus denen sich sogar Prognosen für zukünftiges Verhalten ableiten sollen. Und wo das nicht funktioniert, wie in weiten Bereichen der Geistes- und Sozialwissenschaften, da geht es doch immerhin darum, Muster zu erkennen, Regelmäßigkeiten festzuhalten, die Dinge zu ordnen.

Dennoch – die spannende politische Situation der Bundesrepublik in diesen Wochen und Monaten ließe sich kaum bündiger zusammenfassen. Weder die Oppositionsparteien noch die weisen Auguren der Berliner Bühne, erst recht nicht die Politikwissenschaftler wagen zu behaupten, sie hätten mit der Ankündigung von Neuwahlen zum Bundestag und mit einem wahrscheinlichen Regierungswechsel im Herbst gerechnet, bevor der Vorsitzende der SPD und der Kanzler am 22. Mai an die Mikrofone gingen. Die plötzliche Dynamik der Entwicklung hat alle überrascht. Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.

Aber vielleicht liegt gerade im Unerwarteten das Erwartbare, das Regelmäßige. In der Geschichte der Bundesrepublik hat die Wirklichkeit jedenfalls immer wieder eine erstaunliche Erfindungsgabe bewiesen, die politischen Zeitenwenden, die großen Regierungswechsel neu zu gestalten. Es bleibt richtig: Anders als zu Weimarer Zeiten ist das politische System Deutschlands seit 1949 hochgradig stabil. Regierungen lösen einander nicht in rascher Folge, nicht „mal so eben“ ab. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu der Form der verfassungsmäßigen und politischen Stabilität, die nun schon seit über 200 Jahren die USA kennzeichnet. An den Vierjahresrhythmus der Präsidentschaftswahlen gebunden, ist ein Wechsel dort nie wirklich eine Überraschung. Weil nur zwei Parteien die übergroße Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen, steht es jedes Mal fifty-fifty. Das ist die pragmatische Normalität einer erfahrenen Republik. Dagegen haftet den Regierungswechseln in Deutschland und den Zeiten, in denen diese sich anbahnen, fast immer etwas beinahe Metaphysisches an. Man sagt nicht einfach, jetzt seien die Anderen aber wieder an der Reihe, sondern sucht bohrend nach dem tieferen Sinn, nach der philosophischen Rechtfertigung des Übergangs.

Tatsächlich haben sich diese Übergänge in der Bundesrepublik immer wieder eine neue Form gesucht. In mancher Hinsicht war schon die erste Regierungsbildung von 1949 unwahrscheinlich. Sie war die SPD ausschließend nur knapp unter Führung Adenauers zu Stande gekommen. 1966 rutschte man inmitten der Legislaturperiode in eine Große Koalition, deren Fortsetzung im Herbst 1969 viele erwarteten, als Willy Brandt dann doch das sozialliberale Bündnis wagte. Dreizehn Jahre später vollzog sich der Machtwechsel wiederum ohne direktes Mandat der Wähler, doch angesichts einer zermürbten Sozialdemokratie und eines der Partei entfremdeten Kanzlers durchaus folgerichtig. Die Ära Helmut Kohls und seiner christlich-liberalen Koalition wäre ohne die Wiedervereinigung wahrscheinlich kürzer gewesen, und so läutete der rot-grüne Wahlsieg von 1998 den ersten „echten“ Wechsel in fünfzig Jahren ein: den Sprung an die Macht aus der Opposition heraus als Wählerauftrag. Und knapp sieben Jahre später erleben wir erneut eine Situation, die es so noch nicht gegeben hat.

Spätestens jetzt könnte eingewendet werden: So überraschend kamen die Wechsel aber meist nicht! Es mochte etwas kürzer oder etwas länger dauern; das Verfahren, gleichsam das verfassungsmäßige Gehäuse, in dem er sich vollzog, mochte unerwartet oder sogar unerprobt sein. Doch waren die großen Regierungswechsel in der Geschichte der Bundesrepublik in der Regel zugleich Ausdruck mächtiger Verschiebungen der gesellschaftlichen und kulturellen Stimmungslage. Sie brachten Pendelschwünge des „Zeitgeistes“ zum Ausdruck und hatten in diesen sogar fast immer eine Vorlaufphase, die man als Barometer einer neuen Parlamentsmehrheit betrachten könnte. Das war fraglos 1969 der Fall, als eine SPD-geführte Regierung unter dem charismatischen Reformkanzler Brandt zur Projektionsfläche von Hoffnungen wurde, die sich im Aufbruch- und Protestklima der 60er Jahre, zumal 1967/68, Bahn gebrochen hatten. In der Mitte der 70er Jahre schwang das Pendel bereits wieder zurück. In der Kultur war Historisierung statt radikaler Modernitätsutopie angesagt, und man sprach von neokonservativer Tendenzwende – 1982 kam das auch in Bonn an, und Helmut Kohl versuchte den Zusammenhang zwischen Zeitgeist und Regierungswechsel mit seiner Formel von der „geistig-moralischen Wende“ einzufangen. Dann erneut 1998 der Pendelschwung nach links, mit Rot-Grün als gesellschaftlichem „Projekt“ der gereiften 68er und Umweltaktivisten, als Projekt der Emanzipation und ökologischen Versöhnung.

Und 2005? Die Frage drängt sich auf, ob das Scheitern von Rot-Grün, ob ein möglicher, ein wahrscheinlicher Sieg der Kandidatin Angela Merkel in ähnlicher Weise für einen Umschwung des Zeitgeistes steht. Wenn diese geheimnisvolle Kraft den Regierungskonstellationen um einige Jahre vorauseilt – wo können wir sie erkennen, auf welchen Begriff lässt sie sich dieses Mal bringen? Die Idee des Wirtschaftswachstums alleine kann es wohl nicht sein.

Einige Indizien könnte man benennen. Seit einiger Zeit ist immer öfter von einer Wiedergewinnung von Werten die Rede, von der Notwendigkeit, die Emanzipation nicht ins Laisser-faire treiben zu lassen, sondern Markierungspunkte zu setzen. Die neue Diskussion über Bildung weist in diese Richtung und die Leichtigkeit, mit der wir inzwischen sagen können: Lesen ist besser als Fernsehen! Die Wiederkehr von Religion in den öffentlichen Raum einer vermeintlich fast vollständig säkularisierten Gesellschaft ist ein weiteres Indiz in derselben Strömung, auch wenn im Berliner „Religionsstreit“ einstweilen die säkulare Seite gesiegt hat. Jedoch ist durchaus offen, ob sich diese Indizienkette tatsächlich zu einem tragenden moralisch-kulturellen Fundament einer neuen Bundesregierung verdichtet. Es geht nicht mehr um eine geistig-moralische Wende, sondern um die Lösung sehr realer, brennender Probleme in Ökonomie und Gesellschaft.

Deshalb spricht viel dafür, dass die „Idee“ einer neuen, unionsgeführten Regierung in Kontinuität zu den letzten Jahren der Vorgängerin stehen würde. Spätestens seit 2003 stand nicht mehr Emanzipation und Versöhnung ganz oben auf der rot-grünen Agenda, sondern die Wiederentdeckung der Wirklichkeit. Politik und Öffentlichkeit, Bürgerinnen und Bürger haben sich an jenem Erkenntnisdefizit abgearbeitet, das Roman Herzog fälschlicherweise schon 1997 für ausgeglichen hielt. Für die Regierung Schröder/Fischer begann die Anerkennung der Wirklichkeit auf außenpolitischem Terrain, mit dem militärischen Engagement Deutschlands vom Balkan bis nach Afghanistan. Aber ihr entscheidender Schauplatz ist zu Hause. Jetzt kann sich niemand mehr Illusionen machen über die demografische Entwicklung, über den Würgegriff der öffentlichen Verschuldung, über die Existenz einer „neuen sozialen Frage“ zumal in den abgekoppelten Vierteln vieler Großstädte. Diese Anerkennung der Wirklichkeit, und die Suche nach politischen Antworten darauf, wird jede Regierung nach dem 18. September zur obersten Messlatte machen müssen. Wiederentdeckung der Wirklichkeit – darin liegen auch Herausforderung und Chance für die Wissenschaften, für die Universitäten. Nicht nur, weil sie selber Teil dieser Wirklichkeit sind und sich deshalb mehr als früher bewegen müssen, um ihren Beitrag zu einer Gesellschaft neuer Dynamik und Wettbewerbsfähigkeit, neuer Chancen und neuer Gerechtigkeit zu leisten – erst recht, wenn sie dabei unter der Fahne der vielzitierten „Wissensgesellschaft“ sogar voraussegeln sollen. Sondern auch, weil die Wissenschaften unverzichtbar geworden sind für jene Erkenntnis der Wirklichkeit, die Grundlage für eine neue Politik sein muss. In der Tat haben sich die Kontakte zwischen Wissenschaft und Politik in Deutschland in den vergangenen Jahren intensiviert. Was genau bedeutet die Alterung der Gesellschaft? Die Demografen geben uns Auskunft. Woher kommen die Bildungsdefizite bei Migranten- und Unterschichtkindern? Pädagogen und Bildungsforscher stehen wie lange nicht mehr im Scheinwerferkegel.

Gibt es Beispiele eines Sozialstaats, die dem traditionellen deutschen Modell überlegen sind? Soziologen, Politikwissenschaftler und Historiker versuchen Antworten zu geben. Das kann die Form einer institutionalisierten Kooperation annehmen wie in Expertengutachten und Kommissionen. Mindestens ebenso wichtig bleibt die Form des distanzierten Engagements, der geistes- und sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung und Reflexion, die Wirklichkeit erschließt, ohne sich schon auf bestimmte Interessen oder politische Schlussfolgerungen einzulassen. In einem Klima der Geringschätzung nicht unmittelbar „verwertungsorientierter“ Wissenschaft, unter dem viele der „weichen“ Wissenschaften leiden, liegt darin eine enorme Chance der eigenen Profilierung. Doch geht damit für die Sozialwissenschaften, und mehr noch für die Kultur- und Geisteswissenschaften die Aufgabe einher, ihr Selbstverständnis und Programm nicht nur als das einer kulturellen Traditionspflege und -vergewisserung zu verstehen. Die wirkliche Welt ist mehr als das Reden über die Welt, mehr als Diskurs und Erinnerung. Auch das ist die Botschaft, die von der aktuellen politischen Lage ausgeht.

Von Paul Nolte, der Autor lehrt seit dem 1. Juli Neuere Geschichte/Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin.