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Von Mäusen und Menschen

An manches erinnern wir uns ein Leben lang, anderes vergessen wir sofort – der Gedächtnisbildung auf der Spur

„Hey, ein Kletterfelsen… Der war doch gestern noch nicht da, oder?“ Zugegeben, niemand weiß, was eine Maus denkt. Aus ihrem Verhalten lässt sich aber so manches ableiten. Um das Erinnerungsvermögen der Nager zu testen, braucht man eine Spielarena mit unterschiedlichen Lego-Objekten, eine Kamera, die die Testmaus beobachtet, und viel Geduld. An Stelle des Turms von gestern, steht nun der Kletterfelsen da. Brücke und Pyramide kennt die Maus bereits aus vier Trainingseinheiten. Trotzdem läuft sie um alle Spielgeräte herum, beschnuppert und betastet sie mit ihren Schnurrhaaren, klettert auf das eine oder andere. Die Analyse der Videobänder zeigt, dass normale Mäuse, so genannte Wildtypen, neuen Objekten deutlich mehr Zeit widmen als den bekannten. Knock-out-Mäusen, denen ein bestimmtes Gen für die Gedächtnisbildung fehlt, erscheinen alle Objekte „neu“ – egal, wie oft sie vorher bereits um sie herumgetigert sind.

Lernen und Gedächtnisbildung – wie funktioniert das eigentlich? Was macht den Unterschied zwischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis aus? Und wie schaffen es manche Erinnerungen – etwa das erste Liebeserlebnis oder die Sekunden nach einer schrecklichen Nachricht – sich lebenslang und mit allen Details in unser Gedächtnis einzugravieren? Diesen Fragen geht Prof. Dietmar Kuhl an der FU seit drei Jahren mit seiner interdisziplinären Arbeitsgruppe „Molekulare Neurobiologie“ nach.

„Das, was wir sind und was uns als Person ausmacht, haben wir irgendwann einmal gelernt und hoffentlich auch behalten“, sagt Kuhl. „Deshalb ist der Verlust des Gedächtnisses so fatal. Mit ihm verlieren wir nicht nur die eigene Geschichte, die Persönlichkeit, sondern auch den Kontakt zu Freunden und Mitmenschen.“ Morbus Alzheimer und der normale Gedächtnisverlust im Alter sind nur zwei prominente Beispiele, zeigen aber den großen medical need dieses Forschungszweiges.

„Eine erstaunliche Fähigkeit des Gehirns ist es, dass wir uns an Orte in unserer Vergangenheit begeben können, und uns genau erinnern, wie wir uns damals gefühlt haben“, sagt Kuhl. Etwa an die Tour zur Berghütte in den Schweizer Alpen: pralle Mittagssonne, das Knirschen des Schnees unter den Schuhen, der Geruch von Winterluft – alles ist plötzlich wieder da. Dabei ist das mehr als 20 Jahre her! Erinnerungen sind Zeitreisen zu Orten, an denen wir uns heute noch im Geist bewegen können. Ein Detail, vielleicht nur der Name des Skiortes, und die Erinnerung ist plötzlich da.

Im Hippocampus, einer zentralen Schaltstation unterhalb der Schläfenlappen, werden die verschiedenen Sinnesreize gemeinsam verarbeitet, um eine interne Karte der äußeren Welt darzustellen. Wenn in dieser Region Zellen absterben – etwa durch Unterversorgung mit Sauerstoff (Ischämie) – kann das Anlegen neuer Gedächtnisspuren fortan unmöglich sein.

Das Kurzzeitgedächtnis funktioniert, indem bestimmte Proteine im Inneren der Nervenzellen kurzfristig ihre Effektivität ändern. Etwa wenn Enzyme an diese Proteine eine Phosphatgruppe „dranhängen“. Die Erinnerung hält nur solange, wie die Halbwertzeit dieser Proteinveränderung: wenige Minuten bis Stunden. „Damit ein Langzeitgedächtnis entsteht, braucht es andere Mechanismen“, erklärt Dietmar Kuhl. Sein Team hat Gene identifiziert, die durch wiederholtes Training oder aber im wahrsten Sinne des Wortes „einprägsame“ Ereignisse in den Nervenzellen des Hippokampus „angeschaltet“ werden. Diese Gene steuern die Herstellung von Proteinen, die nicht für das Kurzzeitgedächtnis, wohl aber für das Langzeitgedächtnis gebraucht werden. Den Wissenschaftlern an der FU ist es durch molekulargenetische Verfahren gelungen, einige dieser Gene gezielt aus dem Genom der Maus zu entfernen.

Was es bedeutet, wenn so ein für das Erinnern relevantes Gen fehlt, zeigen maus-psychologische Tests mit solchen Knock-out-Tieren, wie bei der Objekterkennung. Oder beim räumlichen Lernen im runden Wasserbassin. Mäuse schwimmen sehr ungern, bleiben anfangs am Rand und wollen nur eines – raus hier! Dann werden sie mutiger, paddeln auch in die Mitte und entdecken irgendwann unter der trüben Wasseroberfläche die rettende Plattform. Wildtypen finden nach Training zielsicher zur Plattform. Sie orientieren sich anhand von Symbolen, die an der Wand hängen, und erinnern sich an den richtigen Weg. Knock-out-Mäuse schwimmen auch nach der x-ten Trainingseinheit ziellos umher, da ihr Langzeitgedächtnis gestört ist.

Beim Lernprozess teilen sich Synapsen – Verknüpfungen zwischen zwei Nervenzellen – und werden in ihrer Effizienz verstärkt. Wenn Informationen über eine längere Zeit abgespeichert werden, kommt es zu strukturellen und biochemischen Änderungen im Gehirn. Neurobiologen nennen es Plastizität. Jede Erinnerung hinterlässt ein einzigartiges Muster an synaptischen Verknüpfungen. Zwar kann man im Erwachsenenalter nur beschränkt neue Nervenzellen bilden, sehr wohl aber neue Nervenverknüpfungen. Wenn wir intellektuell aktiv bleiben, kann diese Fähigkeit bis ins hohe Alter erhalten bleiben. Ein großes Rätsel ist immer noch, wie die veränderte Genaktivität es schafft, ganz bestimmte Synapsen zu verstärken, andere dicht daneben aber unbeeinflusst zu lassen.

Sein erstes Gedächtnis-Gen isolierte Kuhl bereits 1992 im Labor des Medizin-Nobelpreisträgers Eric Kandel an der Columbia Universität (New York), wo er nach Biologiestudium in Frankfurt und Promotion in Biochemie und Molekularbiologie bei Charles Weissman (Zürich) zur Neurobiologie fand. Damals testete er das Langzeitgedächtnis der simplen Meeresschnecke Aplysia. Lernen können fast alle Tiere. Selbst Bakterien müssen bestimmte Informationen ihrer Umwelt verarbeiten, um zu überleben. Mit der Maus ist Kuhl dem Menschen deutlich näher gerückt. „Obwohl das Nagetier kleiner ist und vollkommen anders aussieht, funktionieren seine Organe, Gewebe und Zellen sehr ähnlich wie die des Menschen. Da das Mausgenom unserem sehr ähnlich ist, lassen sich die Ergebnisse weitgehend übertragen“, so Dietmar Kuhl.

Mausgenetik und Verhaltensbiologie sind nur ein Teil der Arbeit des 47-Jährigen. „Um neurologische Prozesse zu verstehen, müssen wir das Lernen und die Gedächtnisbildung auf zellulärer und schließlich auf molekularer Ebene entschlüsseln.“ Dazu braucht es neben einem hoch qualifizierten, multidisziplinären Team aus Biologen, Medizinern, Biochemikern und Molekularbiologen eine exzellente Laborausstattung. Diese hat die FU für mehr als drei Millionen Euro bereitgestellt. Eine ähnlich hohe Summe hat die Arbeitsgruppe nach strenger Begutachtung nochmals aus nationalen und internationalen Forschungsförderprogrammen eingeworben. Derart ausgestattet sucht das Team um Dietmar Kuhl nach relevanten Genen, bestimmt Signalkaskaden, die ausgelöst werden, wenn Neurone in Aktion „feuern“ und entwickelt Modelle molekularer Abläufe am synaptischen Spalt.

Im ernsten Spiel mit der Maus erweist sich schließlich, ob die Schlussfolgerungen stimmen. „Wenn wir die Funktion eines Gens genau kennen und seine Wirkung molekular bis zum Ende der Reaktionskette verfolgen können, gelingt es, auch neurologische Defekte zu reparieren“, betont Dietmar Kuhl. In zehn bis 15 Jahren, so schätzt er, wird es Wirkstoffe geben, die den Gedächtnisverlust im Alter aufhalten können. Ohne neurobiologische Grundlagenforschung mit der Maus geht dies nicht. Denn der Mensch braucht Mäuse, um sich selbst besser zu verstehen.

Von Catarina Pietschmann