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Amit Chaudhuri ist neuer Samuel-Fischer-Gastprofessor

Leise Töne aus Indien

Mit einem Gemälde des niederländischen Malers Vermeer verglich ein Literaturkritiker jüngst die Romane des indischen Romanciers und Kritikers Amit Chaudhuri. Und tatsächlich, wer Chaudhuri beim Lesen seiner Geschichten zuhört, wie er mit großer Liebe zum Detail und doch mit wenigen Federstrichen Geräusche, Gerüche und Farben charakterisiert, fühlt sich tatsächlich in ein Vermeersches, wenngleich indisches Stillleben versetzt. Wie in einer ausgeklügelten musikalischen Komposition scheint kein Wort falsch gesetzt, wertet der neue Samuel-Fischer-Gastprofessor Alltägliches, Unscheinbares auf. „Meisterhaft und atmosphärisch dicht wie Anton Tschechow“, schrieb die „New York Times“, schildere der 1962 in Kalkutta Geborene in seiner auf englisch verfassten Romantrilogie „Die Melodie der Freiheit“ das Leben einer bengalischen Großfamilie in den Metropolen Südindiens, Bombay und Kalkutta. Minutiöse Beobachtungen wechseln mit distanzierter Emotionalität. Was hier mit großer Eleganz und Leichtigkeit über staubige Nachmittagsluft, Heiratsrituale und schlafende Frauen geschrieben wird, ist kühn konstruiert. Fast als verfolge Chaudhuri, ob als Raga-Musiker, als Literaturrezensent oder Romanschriftsteller das Ziel, unaufgeregt das nur scheinbar Kleine in ein großes Ganzes einzufügen. Für seine Bücher, in denen nie viel passierte, weil sie dem inneren Monologen in der Tradition von James Joyce und Virginia Woolf folgen, ist Chaudhuri mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.

„Ich habe schon einmal überlegt, meine Romane unter einem anderen Namen zu veröffentlichen, damit ich sie selbst rezensieren kann“, scherzt Amit Chaudhuri während seiner ersten Seminarstunde im Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin. So kann Chaudhuri auch als Literaturkritiker - vom „Guardian“ bis zum „New Yorker“ - auf eine vielversprechende Karriere blicken. Nie wollte Chaudhuri den Prozess des Schreibens von dem Prozess des Über-das-Schreiben-Reflektierens trennen, weshalb er nach seiner Schulzeit in Bombay für über zehn Jahre zum Literaturstudium nach Oxford und Cambridge ging.Als Stipendiat amBalliol College verfasste er in Oxford seine Dissertation zum Thema „D.H. Lawrence and ,Difference‘: Postcoloniality and the Poetry of the Present“. Anschließend arbeitete er als Creative Arts Fellow am Wolfson College, später als Special Research Fellow in Cambridge, wo er Kurse zur englischsprachigen und internationalen Literatur gab. Spätestens mit seiner Dissertation fand Chaudhuri zu einem seiner großen Themen, nämlich der Befreiung der indischen Literatur gesehen aus der Brille des Postkolonialismus. „Die indische Literatur lässt sich nicht auf den Widerstand gegen das Empire reduzieren“, redet sich der Vater einer Tochter in Fahrt. Und so passt es, dass Chaudhuri eine viel beachtete Anthologie der modernen indischen Literatur herausgegeben hat, die die in den verschiedenen Sprachen des Subkontinents geschriebene Literatur vereint.

Mit seinen Berliner Studenten will er vor allem zwei Fragen diskutieren, nämlich, ob es eine indische und ob es eine moderne Literatur in Indien gibt. „Als ich vor drei Jahren an der Columbia Universität unterrichtete, hatten wir ausgesprochen produktive und spannende Diskussionen“, erzählt Chaudhuri. Mit seiner Raga-Band und dem Projekt „This is not fusion“ will er im Februar in Berlin auftreten – in einer Stadt, die ihn fasziniert.

SAMUEL-FISCHER-GASTPROFESSUR

Der S. Fischer Verlag hat 1998 gemeinsam mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, der Freien Universität Berlin und dem Veranstaltungsforum der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck die Samuel-Fischer-Gastprofessur für Literatur an der Freien Universität Berlin eingerichtet, die der Vermittlung und kritischen Reflexion der Literaturen der Welt dienen soll. Die Einrichtung der Samuel-Fischer-Gastprofessur für Literatur soll dem wissenschaftlichen und literarischen Leben Berlins internationale Impulse geben. Sie dient nicht allein der künstlerischen Ergänzung des wissenschaftlichen Lehrangebots der Universitäten, sondern auch der Verflechtung des Universitätslebens mit dem geistigen Leben der Stadt. Die individuelle Form des Lehrangebots des Gastes und die persönliche Betreuung seitens der Gastgeber zielen darauf, dieser Einrichtung ein von Mal zu Mal wechselndes Gesicht zu geben. Seit Beginn des Sommersemesters 1998 wird jeweils für ein Semester ein/e Autor/in an das Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Freien Universität Berlin eingeladen. Neben der Lehrtätigkeit an der Freien Universität Berlin hält der Autor einen Gastvortrag und liest auf verschiedenen Lesungen in Berlin, Bonn und Weimar.

Von Felicitas von Aretin