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Die Museumsschreiber

In einer Schreibwerkstatt erarbeiten Studierende des Lateinamerika-Instituts einen Ausstellungskatalog für das Ethnologische Museum Berlin

Das Ergebnis ist greifbar: 64 Seiten, vierfarbiger Bogen-Offset-Druck, DIN A 4, reich bebildert, Inhaltsverzeichnis, Glossar, ISBN-Nummer – alles komplett. Adriana Schneider Alcure zeigt den Ertrag des Sommersemesters nicht ohne Stolz: „So ein gedruckter Katalog ist schon etwas anderes als die übliche Seminararbeit“, sagt die 32-jährige Brasilianerin. Das Buch ist ein Gemeinschaftswerk der Doktorandin aus Rio de Janeiro und elf weiterer Studierender am Lateinamerika-Institut (LAI) der Freien Universität Berlin. Im Rahmen eines Schreibwerkstatt-Seminars haben sie den Begleitband zu der neu eröffneten Dauerausstellung „Koloniale Kunst aus Lateinamerika – Prozesse gegenseitiger Aneignung“ im Ethnologischen Museum Berlin erarbeitet. „Ein Glücksfall“, sagt Seminarleiterin Karoline Noack. Seit längerer Zeit besitzt das Ethnologische Museum Kunstwerke aus der Kolonialzeit Lateinamerikas. „Bisher waren diese Objekte an verschiedenen Orten des Museums verstreut oder wurden erst kürzlich vom Museum angekauft“, sagt die Leiterin der Abteilung Amerikanische Archäologie, Manuela Fischer. Im Mai wurde durch die Neuordnung verschiedener Sammlungen ein Verbindungsraum zwischen den Ausstellungen zu den amerikanischen und europäischen Kulturen frei. Ein Saal, prädestiniert für eine Schau zur kolonialzeitlichen Kunst, einem wichtigen Bindeglied zwischen den vorspanisch-amerikanischen und den europäischen Kulturen. Einige der neu erworbenen Ausstellungsstücke wurden restauriert. Nun fehlte begleitend noch ein Katalog.

Das passende Thema für die Teilnehmer einer „Schreibwerkstatt“, fand Noack vom LAI . Die Einrichtung der Freien Universität Berlin unterhält seit langem enge Bande mit dem Ethnologischen Museum. „Viele Studierende absolvieren Praktika bei uns in der Sammlung und in der Vergangenheit wurden immer wieder Ausstellungsprojekte von Museumsleuten und Studierenden konzipiert“, sagt Manuela Fischer. So ging der Auftrag an den Nachwuchs der Freien Universität Berlin: Erarbeitet einen Ausstellungskatalog für das breite Publikum – aber bitte, nicht zu wissenschaftlich!

Für die meisten Studierenden im Schreibseminar ein Ausflug in unbekannte Gefilde: Konkrete Aussagen machen, die nicht im Bandwurmsatz verloren gehen. Formulierungen auf den Punkt bringen. Schreiben mit wenigen Fußnoten und ohne Zitate. „An der Universität wird wissenschaftliches Arbeiten häufig in Verbindung mit einer sehr komplizierten Sprache vermittelt. Eine Sprache, die für die Studierenden im späteren Berufsleben eher hinderlich sein kann“, erklärt Karoline Noack. Denn wenn es um die Vermittlung von Inhalten an ein breites Publikum geht, haben viele der für das Verfassen von wissenschaftlichen Werken notwendigen Regeln keine Verwendung mehr. In einer Vitrine hängt eine Tunika neben rituellen Trinkbechern aus den Anden, in Öl gebannt blicken Inka-Herrscher längst vergangener Epochen von der Wand auf eine Madonnen-Darstellung auf der Mondsichel, gestaltet aus leuchtend bunten Federn tropischer Kolibris und Papageien. Rund 50 Exponate erzählen in der Ausstellung „Koloniale Kunst aus Lateinamerika“ von den verschiedenen Einflüssen in der kolonialen Darstellung im Spanisch-Amerika zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert. Spanier und Indianer, Mestizen und Schwarze lebten nebeneinander und miteinander, beeinflussten sich gegenseitig in ihren Traditionen und Ritualen, in Alltag und Festen, Kunst und Religion. Die Exponate zeugen heute von dieser kolonialen Kultur, deren eigener Charakter den Zeitgenossen selbst offenbar nicht bewusst war. Dem heutigen Betrachter hingegen vermitteln die Gemälde, Textilien und Holzbecher einen Eindruck davon, wie das Aufeinandertreffen unterschiedlichster Kulturen in der Kolonialzeit eine eigene, neue Kunst jenseits der Vorstellung von „Eroberern“ und „Eroberten“ hervorbrachte.

Warum schmücken tocapus das peruanisches Holzkreuz aus dem 17./18. Jahrhundert, obwohl die geometrischen Ornamente üblicherweise auf inkaischen Textilien zu finden sind? Welche Bedeutung haben die naturalistischen Bildszenen, die auf den kerus, den rituellen Trinkbecher der Inka, bis in die Kolonialzeit dargestellt wurden?

Bevor die Teilnehmer der Schreibwerkstatt ans Formulieren gingen, mussten viele Fragen geklärt werden. Jeder pickte sich ein Ausstellungsstück heraus und recherchierte die Hintergründe der Entstehung der Objekte und deren Bedeutung für den Kontext der Schau. Die Exponate der Ausstellung wurden dabei zu Objektgruppen zusammengefasst.

Auf ihre Fragen fanden die Studierenden zumeist umfassende Antworten. Um sie niederzuschreiben benötigten sie jedoch Handwerkszeug: „Wir haben uns unter anderem die weniger geglückten Texte zu einer anderen Ausstellung als Negativbeispiel vorgenommen, um daran Probleme und Fallstricke beim Schreiben aufzuzeigen“, erklärt Seminarleiterin Noack. Dann folgte die Praxis: Schreiben, Schreiben, Schreiben. Es wurde verfasst, verworfen, redigiert und umgeschrieben. Fertige Texte erreichten per E-Mail-Umlauf alle Studierenden, die im Seminar diskutiert, kritisiert und schon einmal „zerpflückt“ wurden. Ihre unterschiedliche Vorbildung und Herkunft kam den Studierenden zu Hilfe: Einige der Teilnehmer, die Altamerikanistik mit Kunstgeschichte, Lateinamerikanistik, Filmwissenschaften, Ethnologie, Philosophie und Geografie studieren, hatten bereits bei Museumsprojekten mitgearbeitet, eine Kommilitonin konnte praktische Schreiberfahrungen als Journalistin vorweisen. „Zu gewollt wissenschaftlich, zu hohes Niveau, zu lange Sätze – das waren die häufigsten Kritikpunkte“, erinnert sich Adriana Schneider Alcure.

Einfache Worte für komplizierte Zusammenhänge zu finden wurde zur Herausforderung. „Im Seminar diskutierten wir oft darüber, dass manche der für den Katalog verfassten Texte zu abgehoben und abstrakt seien“, sagt die Doktorandin. Manche der auch unter Wissenschaftlern umstrittenen Theorien zur Entstehung kolonialer Kunst mussten greifbar umschrieben werden, ohne jedoch verkürzt oder gar falsch zu erscheinen. Andere Studierende hielten sich in ihren Beiträgen zu lange im Deskriptiven, beim Schildern der Exponate auf. „Zwar ist eine ausführliche Beschreibung im Rahmen einer Seminararbeit durchaus üblich“, erklärt Noack. „Für einen reich bebilderten Museumskatalog, der in der Regel von einem Besucher der Ausstellung gelesen wird, der das Exponat vor Augen hat, ist dies aber nicht sinnvoll.“

Mit dem Museumsprojekt versucht Karoline Noack die Studierende auf die Praxis vorzubereiten. Denn viele Absolventen des Lateinamerika-Instituts arbeiten später in Museen oder in der Feldforschung für private Auftraggeber oder Nicht-Regierungs-Organisationen. Hier wie dort benötigen sie das Handwerkszeug des populärwissenschaftlichen Schreibens. Adriana Schneider Alcure will nach Abschluss ihrer Promotion weiter als Ethnologin in der Forschung arbeiten. Trotzdem ist sie froh, ihre praktischen Erfahrungen in der „Schreibwerkstatt“ gesammelt zu haben. „Das Seminar macht sich einfach gut in meinem Lebenslauf“, sagt die 32-Jährige. „Und der Katalog“, ergänzt sie, „ist für zukünftige Bewerbungen Gold wert“.

Von Ortrun Huber