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Geschichte ist Ereignis

Der große Althistoriker Alexander Demandt verabschiedet sich mit vielen neuen Plänen in den Ruhestand

Als der Berliner Ordinarius für Alte Geschichte, Prof. Dr. Alexander Demandt, am 14. Juli seine letzte Vorlesung hielt, wurde er mit Blumen überschüttet. Mit der Emeritierung Demandts verliert die Freie Universität Berlin einen ihrer profiliertesten aber auch bekanntesten Geschichtswissenschaftler. Seine vielen öffentlichen Ringvorlesungen, die er im Laufe seiner 31-jährigen Tätigkeit am Friedrich-Meinecke-Institut zu weltgeschichtlichen Themen abhielt, gehörten nicht zufällig zu den publikumswirksamsten Veranstaltungen des Hauses. Einige seiner Publikationen gingen später aus diesen Vorlesungen hervor. Es sei ihm stets ein Anliegen gewesen, „über den Zaun seiner Zunft hinauszugucken“, sagt Demandt, er fühle sich dazu berufen, „etwas für das kulturelle Bewusstsein der Menschen zu tun“. Alexander Demandt hat über 30 Monografien verfasst und etwa 200 Essays geschrieben, seine Texte wurden in 13 Sprachen übersetzt. Mit ereignis- und kulturgeschichtlich orientierten Themen – „Das Attentat in der Geschichte“ (1996), „Das Privatleben der römischen Kaiser“ (1996), „Vandalismus. Gewalt gegen Kultur“ (1997) – erreichte er auch das breite Publikum. Sein wohl populärstes Buch „Sternstunden der Geschichte“ (2002) – mittlerweile auch als Taschenbuch erschienen – beschreibt historische Zäsuren, die die Weichen für die Zukunft neu stellten: der Einzug des makedonischen Königs Alexander in Babylon, die Geburt Jesu, die Reformation, der Fall der Mauer.

„Ich habe das aus mir herausgeholt, was in mir angelegt war“, meint Alexander Demandt rückblickend. An die Bombennächte im schimmeligen, nasskalten Waschkeller erinnert sich der 1937 geborene Marburger nur sehr ungern. Als Kriegskind und Ältester von vier Geschwistern sei er sehr früh in die Vaterrolle gedrängt worden. Indirekt hat ihn der Vater, der Staatsarchivrat des Landes Hessen war, auch bei der späteren Berufswahl geprägt. Fast noch prägender war die Jugendzeit, die er in dem hessischen Dorf Lindheim, im Landhaus des Großvaters – dem Kavaliersbau des Lindheimer Schlosses – verlebte.

Der Vater eines Klassenkameraden nahm ihn mit zu Ausgrabungen auf den in der Nähe gelegenen keltischen Ringwall Glauberg. Aus Demandts Faszination für Archäologie, für Münzen, Steinbeile und Scherben, sollte sich später das Thema seiner Promotion entwickeln. 1964 erhielt er als einer der wenigen Auserwählten das begehrte Stipendium des Deutschen Archäologischen Instituts und bereiste ein Jahr lang die Stätten des klassischen Altertums: in Griechenland, in der Türkei, im Iran und im Irak. Er arbeitete als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Frankfurt und lehrte ab 1966 an der Universität Konstanz, wo er sich 1970 zum Thema „Magister Militum“ auch habilitierte. 1974 dann folgte der Ruf an die Freie Universität Berlin.

Als wissenschaftlich national und international anerkannter Spezialist des klassischen Altertums etablierte sich Alexander Demandt 1989 mit dem Grundlagenwerk „Die Spätantike“, einem Handbuch der Altertumswissenschaft. Im Kollegenkreis war er sehr angesehen, aber nicht unumstritten. Demandt begreift Geschichte als eine Abfolge von Ereignissen und menschlichen Erfahrungen und nicht – wie etwa die französische „Annales“-Schule – als langfristige Entwicklung von Strukturen: „Strukturen sind theoretische Konstrukte, Instrumente, die helfen sollen, einen historischen Gegenstand zu verstehen“, erklärt Demandt. Gegenüber einer horizontalen Betrachtungsweise, die historische Phänomene in ihrem gleichzeitigen Nebeneinander untersucht, bevorzugte er methodisch stets den historischen Längsschnitt – „Die Kelten“ (1998) oder „Über allen Wipfeln. Der Baum in der Kulturgeschichte“ (2002) –, der ein Thema durch mehrere Epochen verfolgt. Dieses nicht risikolose Verfahren – bei dem der thematische Schwerpunkt und nicht die historische Vollständigkeit Priorität hat –, seine Vorliebe für das spektakuläre Ereignis und sein mutiger universalgeschichtlicher Zugriff brachten ihm nicht nur Lob, sondern auch Kritik ein. Am meisten Aufsehen erregte 1984 das Buch „Ungeschehene Geschichten“. Demandt fragt darin nach den Handlungsspielräumen des Einzelnen: Was wäre, wenn Pontius Pilatus Jesus nicht gekreuzigt, sondern begnadigt hätte; wenn Napoleon bei Waterloo nicht besiegt worden wäre? Man warf ihm damals vor, er bewege sich zu sehr im Bereich des Spekulativen, der „Science Fiction“. „Aber mir ging es darum, zu zeigen, dass Situationen in der Geschichte immer eine offene Zukunft haben, dass es immer eine Wahlmöglichkeit gibt“, entgegnet Alexander Demandt. „Das Buch ist ein Protest gegen den Fatalismus.“

Was hat ihn über 30 Jahre lang an der Freien Universität Berlin gehalten? Als man ihn aufgefordert habe, sich zu bewerben, hätten ihn vor allem die Insellage West-Berlins und die guten Konditionen gereizt: „Ich habe es als meine persönliche Aufgabe betrachtet, die Kontakte zu den ostdeutschen Wissenschaftlern zu pflegen. Hinzu kam die Größe des Instituts.“ Am Friedrich-Meinecke-Institut waren damals vier Althistoriker beschäftigt. Das ließ ihm die Möglichkeit, eigene Akzente zu setzen. Er baute eine umfangreiche bibliografische Datenbank zur Spätantike auf, setzte – damals in Berlin einmalig – Veranstaltungen zur Geschichtstheorie und -philosophie auf den Lehrplan und widmete sich der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses: „Ich musste nicht nur Anfänger unterrichten, sondern konnte höhere Anforderungen stellen und mich auf die Doktoranden konzentrieren.“

Alexander Demandt hat an der Freien Universität Berlin schon früh das betrieben, was man heute Eliteförderung nennt: Etwa dreißig Wissenschaftler haben unter ihm promoviert, acht davon haben sich auch habilitert. Die meisten sind jetzt Professoren an anderen deutschen Universitäten, einer ist nach Norwegen, ein anderer in die USA gegangen. „Das Niveau der Studierenden war sehr hoch“, erzählt er, „ich hatte viele auswärtige Studenten, die ganze Welt war im Hörsaal vertreten.“ Das alles und vor allem die gemeinsamen Essen und Diskussionen mit den Doktoranden, zu denen er ein sehr enges Betreuungsverhältnis pflegte, wird er jetzt vermissen.

Aber die vielen Pläne wiegen das auf, er möchte sich verändern: Im Januar wird er nach Lindheim ziehen, in das Haus, in dem er seine Jugend verbrachte. ZDF, Deutschlandradio und die FAZ, denen er für unzählige Diskussionssendungen und Artikel zur Verfügung stand, werden auch dort an seine Türe klopfen. Eine Biografie über Alexander den Großen und eine große Ausstellung über den spätrömischen Kaiser Konstantin sind in Planung. Er möchte endlich seine über viele Jahre gesammelten Aphorismen als Buch veröffentlichen. Und natürlich hat Alexander Demandt auch eine Botschaft an diejenigen, die ihm nachfolgen werden: „Vernachlässigt die Klassiker nicht, Kant, Dante, Platon, die großen Geister der Vergangenheit.“

Von Barbara-Ann Rieck