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Wo keine Regierung regiert

Neuer Sonderforschungsbereich an der Universität

Die innenpolitischen Debatten seit der Bundestagswahl haben sich im Wesentlichen um drei Fragen gedreht. Erstens: Wer regiert das Land? Oder anders gefragt: Wer herrscht in der Bundesrepublik? Zweitens: Wie viel Sozialleistungen kann der Staat sich noch leisten, zu wie viel Wohlfahrt ist er fähig? Und drittens: Wie schützt man das Land vor Terrorismus und Verbrechen; wie macht man es sicherer?

Herrschaft, Wohlfahrt, Sicherheit – hierzulande ist der Bürger daran gewöhnt, dass sich staatliche Institutionen wie Regierung und Parlament um solche Fragen kümmern. So ist es auch in den anderen Staaten, die der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) angehören. Wer aber regiert in Ländern, in denen es keine Regierung gibt oder sie schlicht nicht handlungsfähig ist? Wer ist für Sicherheit, Wohlfahrt und Herrschaft zuständig, wenn ein Staat seine Staatlichkeit verliert? Jenseits der OECD-Grenzen ist der funktionierende Nationalstaat eher die Ausnahme. Im Kongo, in Kolumbien oder in weiten Teilen Afghanistans streiten meist nicht gewählte Regierungen oder Abgeordnete um die Macht, sondern Rebellenführer oder „Warlords“ oft auf Kosten der Bürger. Es sind zerfallene oder auseinander fallende Staaten, so genannte „failing states“.

Der neue Sonderforschungsbereich „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit: Neue Formen des Regierens?“ macht das zum Thema. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat ihn kürzlich bewilligt. Er ist am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin angesiedelt und damit der einzige politik- und sozialwissenschaftliche Sonderforschungsbereich am Regierungsstandort Berlin. Die an dem Projekt beteiligten Wissenschaftler untersuchen, wie Regierungsleistungen in Staaten jenseits der OECD-Welt erbracht werden und welche Probleme dabei entstehen.

„Die zerfallenen Staaten sind erst die Spitze des Eisbergs“, sagt der Politik-Professor Thomas Risse, Forschungsdekan des Fachbereichs Politik- und Sozialwissenschaften an der Freien Universität Berlin und Sprecher des neuen Projekts: „In fast allen Transformations- und Entwicklungsgesellschaften hat der Staat Probleme bei der Durchsetzung politischer Entscheidungen oder bei der Aufrechterhaltung des Gewaltmonopols.“ Häufig sind dort private Akteure an die Stelle staatlicher Institutionen getreten. „An der Bürotür steht dann vielleicht ,Verteidigungsminister’“, sagt Risse, „aber in Wirklichkeit sitzt da ein ‚Warlord’ – ein halb staatlicher, halb privater Akteur.“ Es kommt auch vor, dass große multinationale Unternehmen oder Nichtregierungsorganisationen (NGOs) staatliche Aufgaben übernehmen, manchmal auch Verbrecherbanden und Drogenkartelle. Sie kontrollieren beispielsweise den Zugang zu Trinkwasser, Nahrungsmitteln oder Rohstoffen, manche betreiben sogar Drogenanbau oder Menschenhandel. In einigen Ländern kann die Polizei die persönliche Sicherheit der Bürger nicht mehr ausreichend gewährleisten, an ihre Stelle sind private Sicherheitsfirmen getreten – wer reicher ist, kann auch ruhiger schlafen.

Die Wissenschaftler des Sonderforschungsbereichs wollen herausfinden, ob sich das Modell des OECD-Staates, bei dem Herrschaft, Wohlfahrt und Sicherheit hoheitlich geregelt sind, auf den Rest der Welt übertragen lässt. Neben der Freien Universität Berlin sind die Universität Potsdam, das Wissenschaftszentrum Berlin, die „Hertie School of Governance“ und die Stiftung Wissenschaft und Politik an dem Projekt beteiligt. Ab 2006 werden die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen unter einem Dach zusammenarbeiten – unter anderem sind die Politik-, Rechts-, und Geschichtswissenschaften vertreten.

Das wissenschaftliche Vorhaben ist auf zwölf Jahre angelegt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat zunächst die ersten vier Jahre bewilligt und stellt dafür insgesamt etwa 6,5 Millionen Euro bereit.

„Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit: Neue Formen des Regierens?“ ist einer von acht Sonderforschungsbereichen, bei denen die Freie Universität Berlin die Sprecherfunktion innehat. Insgesamt ist die Freie Universität Berlin an 16 Sonderforschungsbereichen beteiligt.

Weiteres im Internet: www.sfb700.fu-berlin.de

Von Oliver Trenkamp