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Ein Engel kommt selten allein

Die Dahlemer „Heinzelmännchen“ vermieten nicht nur Weihnachtsmänner, sondern auch Weihnachtsengel

„Sitzt wie angegossen!“ – Daniela Rohtig stellt sich auf die Zehenspitzen und dreht die rechte Schulter zum Spiegel. Goldener Glitter funkelt über dem Rouge auf ihren Wangen, die Lippen schimmern rot. Ihr seidiges, langes Kleid reicht bis zu den Knöcheln, um die Hüfte hat sie einen goldenen Gürtel geschnallt. Daniela Rohtig zupft die Haare ihrer Perücke zurecht, beugt sich nach vorne, und als sie den Kopf wieder zurückschwingt, sieht sie im Spiegel einen Engel ohne Flügel – die stehen noch im Flur.

Heute ist die Vollversammlung der Weihnachtsmänner, Nikoläuse und Engel in einem Hotel in Berlin-Mitte. Gut 300 himmlische Nachwuchskräfte haben sich in diesem Jahr bislang bei der studentischen Arbeitsvermittlung „Heinzelmännchen“ um einen Job für die Weihnachtszeit beworben: 250 Weihnachtsmänner und etwa 50 Engel. Das Jobbüro ist eine Abteilung des Studentenwerks und hat seinen Sitz an der Freien Universität Berlin. Bereits zum 57. Mal organisieren die „Heinzelmännchen“ das Berliner Weihnachtsmannbüro.

Daniela hat die Flügel unter den Arm geklemmt und eilt die Treppe hinunter. Sie ist knapp dran. Ihr Freund René Heydeck, der Oberweihnachtsmann, steht schon am Wagen, wippt ungeduldig mit seinen schwarzen Winterstiefeln. Mit roter Samthose, weißem Rauschebart und Skijacke bekleidet, öffnet er Daniela die Autotür. „Die Weihnachtsmann-Jacke hast du aber schon dabei“, fragt sie beim Einsteigen. „Ja“, antwortet er knapp und startet den Motor. Im Kofferraum liegt sein mit Sternen bestickter Jutesack.

„Wer bei uns als Weihnachtsengel arbeiten möchte, braucht ein langes, weißes Kleid und lange blonde Haare – egal ob Natur oder Perücke. Außerdem sollte ein Engel auf Kinder zugehen können und muss gute Deutschkenntnisse haben“, sagt Daniela. Sie arbeitet in diesem Jahr zum zweiten Mal für das Weihnachtsmannbüro: „Ein, zwei Weihnachtslieder muss man singen können; mit ,Oh, Tannenbaum‘ und ,Kling, Glöckchen, klingelingeling‘ komme ich ganz gut über die Runden“, sagt sie.

Im Büro der studentischen Arbeitsvermittlung in Dahlem laufen die Telefone heiß. „Je näher der Heilige Abend rückt, desto hektischer wird es hier“, sagt Projektleiterin Joy Thiem. Seit Ende Oktober nehmen die „Heinzelmännchen“ Bestellungen auf: Weihnachtsmann mit Engelsgefolge für die Firmenfeier, einen Nikolaus für die Oma in Schöneberg, die ihre Enkel überraschen möchte. „Engel alleine schicken wir normalerweise nicht los“, sagt Thiem – in der Vermittlungszentrale fürchtet man Herrenrunden, die von den Engeln mehr als Weihnachtslieder wollen. Solche Anfragen habe es schon gegeben: „Wenn eine Kunde ein Christkind ohne Nikolaus möchte, geht das nur, wenn der Auftraggeber eine Frau ist und sie uns eine Kopie ihres Ausweises zukommen lässt.“

Daniela und René suchen einen Parkplatz. René arbeitet schon seit Jahren als Weihnachtsmann. Als Daniela nach ihrem Studium zunächst keine Arbeit fand, beschlossen die beiden, als Team die Familien zu besuchen. „Am Anfang war ich aufgeregt“, sagt sie: „Es ist schon komisch, am Heiligen Abend in eine völlig fremde Familie zu kommen: Man will ja nichts falsch machen. Aber Engel zu sein wird schnell zur Routine und ich freue mich, wenn die Kinder am Nikolausabend oder an Weihnachten mit großen Augen vor mir stehen“, sagt sie. Wie im vergangenen Jahr ist sie auch jetzt wieder im Organisationsteam des Weihnachtsmannbüros: Sie koordiniert Termine, wählt Bewerber aus und plant die Routen für den Heiligen Abend.

Der Besuch des Weihnachtsengels ist genau geregelt. Bestellt eine Familie ihn zusammen mit einem Weihnachtsmann, muss zunächst vorrecherchiert werden: Wie alt sind die Kinder? Wie läuft es im Kindergarten oder in der Schule? Wie heißt der Hund? „Engel wissen schließlich alles“, Daniela lacht. Am Heiligen Abend klingelt der Weihnachtsmann mit seiner himmlischen Assistentin pünktlich zur bestellten Zeit an der Haustür. Meistens sind sie mit dem Auto da – die Wege sind sonst zu lang in Berlin.

Um den Kindern die Angst vor dem fremden, alten Mann zu nehmen, singt der Engel ein Weihnachtslied, dann liest der Weihnachtsmann in seinem Goldenen Buch nach, ob die Kinder brav waren: „Hier scheint ja alles in Ordnung zu sein“, spricht er mit tiefer Stimme und buckelt seinen Jutesack, um wieder nach draußen zu gehen. „Halt! Weihnachtsmann“, sagt Engel Daniela dann immer: „Du hast ja die Geschenke vergessen“, und den Kindern flüstert sie zu: „Der Weihnachtsmann wird auch immer tattriger.“

Die Hotellobby füllt sich mit roten Zipfelmützen, Engelsperücken und Journalisten. Die Vollversammlung der Himmelsboten beginnt mit Rollenspielen: Wie reagiert ein Nikolaus, wenn ihm der Bart verrutscht? Und wenn Opa den Engel anflirtet? „Souverän bleiben“, rät ein Oberweihnachtsmann: „Alte Männer und himmlische Wesen lassen sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen.“

Aber manchmal werden sie dennoch nervös. Daniela hat besonders mit Haustieren viel erlebt: „Da bellt der Hund ein ganzes Lied lang mit, oder die Hauskatze fährt die Krallen aus.“ Und oft unterschätzt sie die schnelle Auffassung der Kinder: „Im vergangenen Jahr kam ein Junge auf mich zu gerannt und hat gesagt: ,Endlich seid ihr wieder da. Der Weihnachtsmann hat beim letzten Mal seinen Sack bei uns liegen gelassen. Haben die anderen Kinder keine Geschenke mehr bekommen?‘“

Auf der Freitreppe drängen sich die Weihnachtsmänner. „Engel nach vorne“, blökt einer von hinten. Fototermin: Daniela winkt in die Kamera. „Ho, ho, ho“, schallt es aus 200 Kehlen. Ein Nikolaus in Dunkelblau hat eine Mandoline dabei. Hinten zieht ein anderer Nikolaus dem Nachbarn am Bart: „Hups, der ist ja echt.“ Der Fotograf ruft: „Und noch einmal bitte alle winken.“

Dann beginnt die Kostümkontrolle – und die ist streng: Weihnachtsmänner brauchen ein Kostüm aus Samt oder Plüsch; Filz sieht zu billig aus. Bart, Kapuze oder Mütze und ein Sack sind ebenfalls Vorschrift, ein goldenes Buch und eine Glocke werden empfohlen. „Ein Nikolaus trägt keine Jeans unter dem Umhang und hat keine Turnschuhe an“, sagt Joy Thiem vom Weihnachtsmannbüro. Ein Engel ist mit Netzstrümpfen zum kurzen Kleid erschienen: „Höchstens für Firmenfeiern“, sagt Thiem: „Aber das würde ich mir an deiner Stelle noch einmal überlegen.“

Daniela und René werden durch die Kontrolle gewunken: Der Oberweihnachtsmann und sein Engel sind selbstverständlich korrekt angezogen. Beide sollen bei der Kostümkontrolle helfen. Gegen 18 Uhr wird Daniela nervös. René unterhält sich mit einem Kollegen – seit Minuten. Daniela schaut auf die Uhr. Im Feierabendverkehr brauchen sie bestimmt etwas länger bis nach Hause. „Entschuldige bitte, aber wir müssen dringend gehen“, sagt sie, als sie sich bei René einhakt und ihn rasch zum Ausgang schleppt. Auch Engel sind manchmal ganz menschlich: Im Fernsehen läuft gleich „Sex and the City“.

Von Matthias Thiele