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Erziehung durch Wissenschaft?

Zum ersten Mal gibt es zum Beginn eines Sommersemesters keine Immatrikulationsfeier: Die Zahl der Neuimmatrikulierten reicht dafür nicht aus. Der Grund: Die Freie Universität Berlin stellt sich auf das internationale System jährlicher Zulassungen zum Winter um. Auch das ist ein Stück Europa, ein Stück der Umstellung auf die BA-/MA-/PhD-Studiengänge. Aber das ist nicht alles. Es vergrößert sich die Zahl der Studienanfänger, die im Winter bereits nach dem zwölften Schuljahr die Hochschulreife erworben haben. Es wird, wenngleich in kleiner Zahl, auch „Superschnell-Läufer“ geben, die bereits nach elf Jahren so weit sind. Das heißt, unter unseren Studienanfängern befinden sich 17-Jährige. Und: Wenn sich Früheinschulungen mittelfristig auswirken, dann können es sogar 16-Jährige sein.

Die Hochschulen werden von ihnen nicht das Gleiche erwarten können wie von 20-Jährigen. Es entsteht die Frage nach der tatsächlichen Hochschulreife, die mehr ist als ein Kanon abgespeicherten Gymnasialwissens. Hochschulreife ist auch ein Habitus, der viele Facetten hat. Zu ihnen gehören die Fähigkeit und Bereitschaft zu selbstverantwortlichem Lernen und Arbeiten, zum Nachfragen, zur begründeten Kritik, zu Wahlentscheidungen im Hinblick auf Themen, Fächer und Berufsperspektiven. Zur Hochschulreife gehört aber auch die Fähigkeit, mit den Lehrenden und Lernenden im eigenen Umfeld in ziviler Weise umzugehen: zuhören zu können, nicht Recht behalten zu wollen, sondern die Wahrheit zu finden. Dazu gehört auch, das eigene Wissen in den Lernprozess einzubringen, eine Erkenntnis suchende Haltung zu gewinnen, einen Zusammenhang sehen zu wollen zwischen der Wissenschaft und dem wirklichen Leben.

Vieles fällt einem dazu ein, doch kaum wirklich Neues – denn all das ist mit dem Beginn des europäischen Universitätsideals am Ende des 18. Jahrhunderts bereits gedacht worden. In Deutschland hat es sich zu der Formel „Bildung“ verdichtet. Deutsche Universitätsgründer waren am Anfang des 19. Jahrhunderts der festen Überzeugung, dass Wissenschaft von sich aus bilde. Das war richtig in einer Welt, in der so wenig gewusst und so vieles geglaubt wurde. Für die hoch spezialisierten Wissenschaften unserer Tage gilt dieses jedoch nicht in selbstverständlicher Weise. Die Hochschulen werden sich also darüber Gedanken machen müssen, wie sie einen Bildungsauftrag erfüllen wollen, wenn junge Menschen, fast noch Kinder, studieren werden.

Das wird ein weiterer Anlass sein, sich über die erzieherische Qualität des Hochschulunterrichts Gedanken zu machen und auch über ein Klima der Entschlossenheit nachzudenken, um jungen Menschen zu einem erfolgreichen und erfüllten (nicht nur Berufs-)Leben zu verhelfen. Viele von uns Wissenschaftlern sind darauf gar nicht vorbereitet, und wir müssen uns fragen, ob wirklich jeder von uns willens ist, 16- und 17-Jährige zu unterrichten. Wir werden neue Formen des Übergangs zwischen Gymnasium und Hochschule kreieren müssen, Kolleg-Formen, die beides miteinander verbinden: schulische Unterrichtstypen mit der Freiheit und gleichzeitig der (Methoden-)Strenge wissenschaftlicher Erkenntnissuche. Vielleicht werden Hochschullehrer und Hochschullehrerinnen sich auch spezialisieren müssen auf Altersgruppen, Studiengangsstufen und fachübergreifende, berufsorientierte Qualifikationen. Mit der breiten Einführung des dreistufigen Studiensystems stehen die deutschen Universitäten an einem Anfang, der noch zahllose Herausforderungen bereithält. Je früher wir uns mit der Frage befassen, wie Universität erzieht und bildet, desto besser – die Antworten liegen nicht auf der Hand.

Von Dieter Lenzen, Präsident der Freien Universität Berlin.