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Bei „Wickie“ ist die Welt noch in Ordnung

Der Fernsehkonsum von Kindern sollte schon im Vorschulalter überprüft werden

„Wickie und die starken Männer“ ist eine Zeichentrick-Serie aus dem Jahr 1974, die viele Eltern noch aus Kindertagen kennen. Auch Herbert Scheithauer von der Freien Universität Berlin ist mit den Abenteuern der Wickie-Figur aufgewachsen. Der kleine Wikinger-Junge ist zwar etwas ängstlich, hilft aber seinem Vater Halvar mit seinen klugen Ideen immer wieder aus der Patsche. Wickie ist also eine positive Identifikationsfigur. „Der Handlungsaufbau der Filme ist lösungsorientiert und steuert meist auf ein Happy-End hin, die Kinder werden mit düsteren Stimmungen nicht alleine gelassen, es gibt wenige Gewaltdarstellungen“, erklärt der Juniorprofessor für Entwicklungswissenschaft und Angewandte Entwicklungspsychologie. Aber natürlich müssen dem Fernsehkonsum zeitliche Grenzen gesetzt werden und hier sind in erster Linie die Eltern gefragt. Mehr noch: „Eltern und Kinder sollten zusammen fernsehen und sich darüber auseinander setzen. Es ist ein Irrglaube zu denken, Eltern hätten dann eine Auszeit“, sagt Scheithauer.

Als Faustregel gilt: Schulkinder, die am Tag durchschnittlich mehr als zwei Stunden alleine fernsehen, weisen häufiger Entwicklungsdefizite auf als andere Kinder. Für die Altersgruppe der Fünf- bis Sechsjährigen empfiehlt Scheithauer eine maximale Dauer von 30 Minuten am Tag. Obwohl in Studien aus den Jahren 1999 und 2002 bereits nachgewiesen wurde, dass übermäßiger Fernsehkonsum auch bei Vorschulkindern die psychosoziale Entwicklung und die Gesundheit negativ beeinflusst, wird bislang in den Vorsorgeuntersuchungen keine systematische Medienanamnese durchgeführt. In enger Zusammenarbeit mit dem Bremer Kinderarzt Hendrik Crasemann und der Diplomandin Carolin Züge von der Freien Universität Berlin wurden deshalb jetzt zu diesem Thema zwei Pilotstudien durchgeführt. Kooperationspartner waren Bremer und Kölner Kinderärzte und der Kinder- und Jugenddienst der Stadt Hagen.

Carolin Züge hat mit Herbert Scheithauer einen bislang für Deutschland einzigartigen Medienanamnesebogen entwickelt und in ihrer Diplomarbeit überprüft. Der von den Eltern auszufüllende Bogen beinhaltet Fragen wie: Gibt es bei Ihnen zu Hause Regeln, wann Ihr Kind fernsehen oder eine CD hören darf? Wird bei Ihnen während der Mahlzeiten ferngesehen? Oder: Wonach entscheiden Sie, was Ihr Kind anschaut, hört oder spielt? Stichproben von 210 Kindern in Kinderarztpraxen in Bremen und Köln sowie von 1800 Hagener Kindern im Rahmen von Schuleingangsuntersuchungen wurden ausgewertet. Erste Analysen ergaben, dass Fünf- bis Sechsjährige am Tag durchschnittlich 64 Minuten vor dem Bildschirm sitzen. In einzelnen Familien gab es sogar Kinder, die bis zu fünf Stunden täglich Computer- oder Videospiele nutzten und fernsahen – darunter Sendungen wie etwa die Fantasy-Serie „Transformers“, die sich durch eine lebensferne Umwelt, schnelle, hektisch-lärmende Szenenfolgen und viel Gewalt auszeichnet. Oft kommen diese Kinder aus Familien mit geringem Bildungsniveau und niedrigem sozioökonomischen Status, die Eltern haben wenig Geld und können ihren Kindern keine attraktiven Freizeitangebote machen. Gerade diese Kinder schneiden bei den Schuleingangsuntersuchungen häufig schlechter ab als andere. Sie zeigen Verhaltensauffälligkeiten wie Hyperaktivität oder haben Sprachprobleme. „Im Vorschulalter ist der Spracherwerb noch nicht abgeschlossen“, erläutert Carolin Züge. „Er geht einher mit sozialen und emotionalen Kompetenzen, die im Dialog mit anderen Familienmitgliedern erworben werden.“ Wer nur passiv vor dem Fernseher oder dem Computer hockt, kann auch nicht lernen, Erlebnisse und Emotionen adäquat in Worte zu fassen oder Freundschaften zu schließen.

Die Auswirkungen negativen Medienkonsums zeigen sich oft erst bei Schulkindern, und dann ist es meist schon zu spät – die familiären Fernsehgewohnheiten haben sich bereits verfestigt und verselbstständigt. „Wenn wir präventiv vorgehen wollen“, sagt Herbert Scheithauer, „müssen wir früher anfangen.“ Im Vorschulalter könnten solche Verhaltensmuster noch sehr viel leichter beeinflusst werden. Der engagierte Entwicklungspsychologe möchte deshalb auch Berliner Kinderärzte für diese Fragen sensibilisieren und ihnen den Medienanamnesebogen zur Verfügung stellen. „Es ist grundsätzlich erstrebenswert“, sagt Scheithauer, „dass bei den Vorsorgeuntersuchungen und in der Schuleingangsdiagnostik Daten zum Mediennutzungsverhalten in den Familien erhoben werden.“ Diese könnten Aufschluss über Verhaltensstörungen geben und dem Arzt die spezifische Diagnostik und Beratung erleichtern.

Natürlich gibt es auch Sendungen, die Scheithauer Eltern und Kindern empfehlen kann, etwa die Marionettentheater-Serie „Augsburger Puppenkiste“: „Die Figuren sind lebensbejahend, fröhlich, ihre Lieder bleiben den Kindern noch lange im Gedächtnis“, schwärmen der Dozent und seine Diplomandin. Also dann: Auf nach Lummerland! Zu Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer.

Weiteres im Internet: http://userpage.fu-berlin.de/~hscheit/forschung.html

Von Barbara-Ann Rieck