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Wir dichten Geschichte

Jutta Müller-Tamm wurde Professorin am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften

Was haben Literatur- und Naturwissenschaften gemeinsam? „Auch die Naturwissenschaften stellen nicht einfach Tatsachen fest, sondern errichten Modelle, Hypothesen, in diesem Sinne also Fiktionen“, sagt Jutta Müller-Tamm. „Umgekehrt muss man Literatur auch als eine Form des kulturellen Wissens begreifen, das sich in produktiver Weise auf eine bestimmte historische Ordnung des Wissens bezieht.“ Müller-Tamm ist spezialisiert auf das Verhältnis zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und bekleidet seit Januar 2006 an der Freien Universität Berlin die Professur für Neuere Deutsche Literatur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bereits im Juli 2004 hatte sie ihren Vorstellungsvortrag über „Seelenwanderung als poetologische Chiffre in Heinrich Heines ,Reisebildern‘“ gehalten – und setzte den gängigen geschichtspessimistischen Deutungsmustern des Seelenwanderungsmotivs eine eigene, neue Lesart entgegen. „In den ,Reisebildern‘ geht es um die Bedingungen und Möglichkeiten von Geschichtsdarstellung überhaupt“, erklärt Jutta Müller-Tamm. „Das Motiv der Seelenwanderung, wie Heine es einsetzt, steht nicht für die Wiederkehr des Immergleichen, nicht für ein zyklisches Geschichtsbewusstsein, sondern für die fundamentale Einsicht, dass Geschichte immer Interpretation ist.“

Die 42-jährige Wissenschaftlerin hat die Berufungskommission vor allem mit ihrem innovativen Zugriff auf die Literatur überzeugt. „Wir suchten jemanden, der über ein aktuelles wissenschaftliches Profil verfügt“, sagt Professor Peter Sprengel, geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsche und Niederländische Philologie.

Mit dem komplizierten Wechselverhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften befasste sich Jutta Müller-Tamm bereits 1994 in ihrer Dissertation über den Mediziner, Schriftsteller und Goethe-Freund Carl Gustav Carus (1789–1869). Das Thema hat Konjunktur. Denn in den letzten 20 Jahren hat sich innerhalb der Wissenschaften immer mehr der Trend durchgesetzt, „literature“ und „science“ nicht mehr als zwei völlig voneinander getrennte Felder zu betrachten. Vielmehr geht es darum, Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte zwischen beiden kulturellen Bereichen zu dokumentieren und in ihrer Geschichtlichkeit zu beschreiben. Auch in ihrer 2003 erschienenen Habilitationsschrift „Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne“ beschäftigte sich die Germanistin mit diesem Thema.

Ihrer neuen Aufgabe an der Freien Universität Berlin sieht Jutta Müller-Tamm mit großem Enthusiasmus entgegen: „Ich finde, die Geisteswissenschaften werden hier mehr gefördert als an anderen Universitäten.“

Jutta Müller-Tamms akademischer und beruflicher Werdegang ist sehr vielseitig. Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften sowie der Kunstgeschichte in Heidelberg und Frankfurt am Main war sie an der Kunsthalle Schirn in Frankfurt als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei den Ausstellungen „Goethe und die Kunst“ (1994) und „Sehnsucht nach Glück. Klimt, Schiele, Kokoschka“ (1995) beschäftigt. Die gebürtige Ludwigshafenerin leitete Volkshochschulkurse zu kulturhistorischen Themen und war sechs Jahre lang wissenschaftliche Assistentin bei Professor Norbert Miller an der Technischen Universität Berlin. In ihre Lehr- und Forschungstätigkeit an der Freien Universität Berlin wird all das einfließen; insbesondere möchte sie den Bereich von „Literatur- und Wissenschaftsgeschichte“ als Studienschwerpunkt etablieren. Was genau motiviert Jutta Müller-Tamm, sich so intensiv mit dem Verhältnis von Poesie und Wissen auseinander zu setzen? „Ich möchte“, antwortet die frisch gebackene Professorin, „den Menschen in seiner Geschichtlichkeit begreifen.“

Von Barbara-Ann Rieck