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Sport ist (kein) Mord

Es gibt Akademiker, die ihre Intellektualität unter anderem dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie sich selbst durch eine negative Affinität zu Sport, körperlichem Training oder sogar jeglicher Bewegung bekennen. Das versteht man nur, wenn man Genievorstellungen der deutschen Romantik kennt, die Feier des Innerlichen, oder Aufklärung als pure Angelegenheit des Verstandes, unter Verachtung aller niederen Organe, zu denen auch Muskelpartien und Gelenke zählen. Da wird Askese gepflegt oder wenigstens propagiert, an Kants reduzierte Gestalt erinnert, an die Reduktion seiner Ernährung auf Käse und Senf, an Schiller, der nicht als Ballspieler in die Geschichte einging, an den Stubengelehrten, für den das Leben viel zu kurz ist, als dass es nicht mit Introspektion und der Suche nach Wahrheit zugebracht werden könnte. Es gibt auch Intellektuelle, die, vielleicht aus Sorge vor sozialer Destabilisierung ihrer selbst, im sportlichen Tun den Absturz ins Proletarische wittern, und wenn nicht dies, so zumindest doch eine soziale Banalisierung. Manch einer mag auch Angst vor Verletzung haben, Ekel empfinden vor den Bakterien, die den menschlichen Schweiß wahrnehmbar machen, kurzum: Die Geschichte der deutschen Wissenschaft ist angefüllt von Verrohungsängsten, die dazu geführt haben, dass Sport an deutschen Hochschulen eher ein marginales Dasein fristet.

Ganz anders, wenn man das Land und den Kontinent verlässt: Von Japan bis zu den USA werden an den Tagen der Immatrikulation die „Freshmen“ in jeder Universität, jedem College an Dutzenden von Ständen umworben, an denen die Sportclubs der Universität sich präsentieren und eine Mitgliedschaft empfehlen. Sport in Ländern, in denen Bildung nicht als Instrument gegen die Privilegien des Adels oder des Besitzbürgertums eingesetzt werden musste: Hier entstanden keine ständischen Abgrenzungsbedürfnisse. Im Gegenteil, Sport wurde integraler Bestandteil der höheren Bildung. Ein Hochschulstudium an einer amerikanischen Universität ohne irgendeine Form des sportlichen Engagements führt eher zur Ausgrenzung als zur Adelung. Körperdisziplin, Anstrengungsbereitschaft, Teamgeist, Wettbewerbslust sind Schlüsselqualifikationen, deren Erwerb der sportlichen Betätigung zugeschrieben wird.

Aber egal, ob es dazu empirische Belege gibt oder nicht: Die Benutzung unseres Bewegungsapparats, das Training von Herz und Kreislauf und das Gefühl, etwas gerade noch mit letzter Kraft geschafft zu haben, ist auch für uns Sitzlinge nützlich. Ich bekenne, dieses erst jenseits meines 50. Lebensjahres begriffen zu haben und ärgere mich darüber, dass meine Universität mich nicht als Student zum Sport genötigt hat. Vielleicht waren wir nicht initiativ genug, warteten auf die staatlichen Angebote. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir selbst uns zu sportlichen Teams zusammengetan hätten, ohne Meisterschaftsdrang, ganz einfach nur so, weil es Spaß macht. Ich wünsche mir, dass auch dieses ein Element der Internationalisierung sein wird: Dass Studierende zu uns kommen und fragen, ob wir sie bei der Gründung eines Hochschulsportklubs in dieser oder jener Sportart unterstützen können. Nicht mit beamteten Trainern, sondern als Hilfe zur Selbsthilfe. Vielleicht geht dann etwas von dem „Feeling“ auch auf uns über, das bei Sportmeisterschaften den einen oder anderen packt: Irgendwie möchte man dabei gewesen sein.

Von Dieter Lenzen, Präsident der Freien Universität Berlin.