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China – ein führender Akteur unserer Zukunft

Auszug aus einem Vortrag des Harvard-Professors William C. Kirby anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin

Es kommt mir vor, als hätte ich heute endlich mein Examen an der Freien Universität Berlin abgelegt. Es ist für mich ein besonderes Privileg, die Ehrendoktorwürde von einer Universität verliehen zu bekommen, die in einer Zeit des Widerstreits im Geiste internationaler Zusammenarbeit gegründet wurde. Es ist für mich auch ein Privileg, an einem Ort geehrt zu werden, der sich der freien Forschung verschrieben hat; einer Institution, die sich in ihrem Streben nach Wissen keine Grenzen setzen lässt – weder nationale, politische noch methodologische.

Selbst wenn ich diese Ehrendoktorwürde heute nicht bekäme, so wäre es allein schon ein großes Privileg, in diesem erlauchten Kreis internationaler Wissenschaftler hier in Berlin sein zu dürfen. Ich selbst habe von der Offenheit dieser Stadt und dieser Universität in hohem Maße profitiert – und ich kann ohne Übertreibung sagen, ohne Berlin und die Freie Universität hätte ich keine akademische Karriere in der Geschichtswissenschaft eingeschlagen.

Ich kam 1972 als Student an die Freie Universität, nachdem ich mein Examen in den USA abgelegt hatte; meinen Aufenthalt damals verdanke ich der Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Großzügigkeit der Berliner, die ein Stipendium als Dank für die Luftbrücke ins Leben gerufen hatten. Berlin war – so warb man damals – „eine Reise wert“. Für mich war es eine grundlegende Erfahrung, die mein Leben veränderte.

An die Freie Universität wechselte ich damals hauptsächlich, um deutsche und europäische Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut zu studieren. Das gelang mir auch – allerdings mit einigen Schwierigkeiten, denn in jener Zeit politischer Aktivitäten wurden einige Seminare „bestreikt“. Was auch immer man über diese Zeit sagen mag – es war eine Periode intensiven Engagements. Da die Freie Universität schon damals internationale Geschichte pflegte, führte mein Aufenthalt hier auch dazu, mich der Asienforschung zu widmen. Ich konnte so ein akademisches Fundament erwerben, auf dem ich später während meiner Promotion an der Harvard University in europäischer und chinesischer Geschichte aufbauen konnte.

Wie Sie vielleicht wissen, verdankt Harvard der Internationalisierung der Hochschulbildung sehr viel – und dabei vor allem Deutschland. Denn Harvard als die älteste der amerikanischen Universitäten wurde für seine Gelehrsamkeit erst bekannt, als es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann, dem modernen deutschen Universitätsmodell nachzueifern und hier nicht zuletzt der Vorgängerin der Freien Universität, der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität.

Mein Lehrer an der Harvard University, John Fairbank, verkörperte mit seiner Erfahrung und seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen die internationalen Dimensionen moderner China-Forschung. Fairbank lehrte mich vieles, aber das Wichtigste war vielleicht das Folgende: Er machte mir klar, dass das Studium Chinas zu groß, zu komplex und zu facettenreich ist, als dass eine wissenschaftliche Schule oder ein einzelnes Land sich hier die Deutungshoheit anmaßen könne. Und er lehrte mich zu verstehen, dass man China nicht für sich genommen studieren kann, sondern dass man es auch unter dem Blickwinkel der Interaktion mit den Kulturen der Nachbarländer und auch denen entfernter Länder betrachten muss.

Auf dem Höhepunkt von Fairbanks wissenschaftlichem Schaffen standen die internationalen Beziehungen des modernen Chinas im Mittelpunkt der Forschungen zur chinesischen Geschichte – ob in der westlichen Welt oder in China selbst. Und doch stagnierte in den 1970er-Jahren die Forschung in diesem Bereich: Sie wurde in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht von Arbeiten über die Sozial- und Kulturgeschichte überflügelt. Während viele Wissenschaftler die Konflikte analysierten, die über die Jahre aus den politischen Außenbeziehungen Chinas erwuchsen, so konzentrierten sich doch nur wenige auf die Muster von Interaktion, von gegenseitiger Durchdringung und von Kooperation über nationale Grenzen hinweg, die sich als ebenso wichtig erwiesen haben.

Es ist meiner Meinung nach zu begrüßen, dass die führenden Institutionen der China-Forschung in der ganzen Welt diese Themen nun aufgreifen. Das gilt vor allem für die Sinologie an der Freien Universität Berlin unter der Leitung von Professorin Mechthild Leutner. Es gilt ebenfalls für den Fachbereich Geschichtswissenschaft der Peking-Universität unter Professor Niu Dayong und – glücklicherweise – auch wieder für Harvard.

Inzwischen haben wir – in Berlin, in Peking und in Harvard – diese Forschung durch eine Reihe gemeinsamer Workshops zum Thema der Internationalisierung Chinas intensiv vorangetrieben. Wir stützen uns dabei stets auf die einfache Prämisse: Im 20. und 21. Jahrhundert können in vielen Bereichen zwischen internationalen, globalen oder externen Belangen auf der einen Seite und chinesischen Belangen auf der anderen unmöglich Grenzen gezogen werden. Ziel war es deshalb nicht, Internes von Externem zu trennen, sondern die Internationalisierungsprozesse Chinas im In- und Ausland zu erforschen.

Unser ursprüngliches Ziel war es, etwas zu erforschen, das man als Internationalisierung der internationalen kulturellen Gepflogenheiten in China bezeichnen könnte – sei es im politischen Handeln, in Geschäftspraktiken, im Rechts- und Gefängnissystem oder in anderen Bereichen. Wir nahmen dabei an, dass den chinesischen Akteuren mindestens genauso viel Bedeutung zukommt wie internationalen Einflüssen.

Wie zum Beispiel können wir uns erklären, dass gewisse Elemente des westlichen politischen Gedankenguts in China so langlebig sind? Dazu gehört in nicht unbedeutendem Maße der Leninismus, der immer noch prägend für das Regierungssystem der Volksrepublik ist. Welche Lehren können wir aus der Erforschung des modernen chinesischen Kapitalismus ziehen, wenn wir die Wirtschaft des heutigen Chinas untersuchen? Aus der Erforschung eines Kapitalismus also, der unter internationalem Einfluss noch vor der kommunistischen Revolution heranreifte – und der dann an der ostasiatischen Peripherie Chinas gedieh?

Eine zweite umfassende Aufgabe, die zum größten Teil noch vor uns liegt, ist es, Chinas Rolle in der Welt zu betrachten und dabei auch Bereiche in den Blick zu nehmen, in denen Chinas internationale Präsenz globale Gemeinschaften und Praktiken sozusagen neu definiert hat. Welchen Unterschied hat es zum Beispiel gemacht, dass China eine führende Rolle in so verschiedenen Organisationen wie der Kommunistischen Internationale, dem Internationalen Roten Kreuz und den Vereinten Nationen übernahm; ganz zu schweigen von den vielen internationalen Nichtregierungsorganisationen, zu denen einzelne Chinesen ihre Zugehörigkeit erklärt haben?

Als Wissenschaftler müssen wir begreifen, dass die Geschichte des modernen Chinas schlicht keinen Sinn ergibt, wenn man ihre internationalen Dimensionen außer Acht lässt. Das China unserer Zeit kann man nicht verstehen, wenn man nicht jene globalen Kräfte erfasst, die das Land geprägt haben und jene sieht, die es weiterhin prägen. Es muss uns gelingen, besser als gegenwärtig zu verstehen, auf welche Weise die Handlungsmuster der Außenpolitik Chinas mit innenpolitischen Prioritäten verknüpft sind.

Bedeutsam ist die Internationalisierung Chinas vor allem für unsere gemeinsame Zukunft, für uns als Bürger dieses Planeten. Der Zustand der Außenbeziehungen Chinas – grob betrachtet in wirtschaftlicher, kultureller, politischer und militärischer Hinsicht – wird einer der bedeutendsten Faktoren nicht nur für die weitere Entwicklung Chinas sein, sondern auch für die Aussichten der Welt auf Frieden und Wohlstand. Während sich der Prozess der Internationalisierung Chinas intensiviert und China sich in internationalen Organisationen von einem Partner zu einer führenden Macht entwickelt, wird China immer schneller auch ein führender und damit bestimmender Akteur unserer gemeinsamen Zukunft.

Dies allein ist Grund genug, die Erforschung der Internationalisierung Chinas wirklich international voranzutreiben. Es ist Grund genug, Wissenschaftler aus Berlin, Peking und Boston und darüber hinaus zusammenzubringen. Und während wir diesen Weg beschreiten, werden wir hoffentlich einen letzten Ratschlag meines Lehrers Fairbank berücksichtigen: den Glauben, dass man aus der Geschichte lernen muss, um die Verhältnisse der Gegenwart zu verbessern. Auch dies ist unsere Aufgabe, und es kann unser gemeinsamer Beitrag zur Geschichte der Gegenwart sein.

Denn wir dürfen nicht vergessen, dass wir in einer Welt globaler Strömungen mit diversen regionalen Variationen leben – wie ein Sozialwissenschaftler es wohl ausdrücken würde. Konfuzius hatte die treffendere Formulierung: „Uns unterscheidet unendlich viel, aber wir haben nur einen rechten Weg.“

Übersetzung: Carsten Wette

ZUR PERSON

Profilierter China-Experte

Der US-amerikanische Historiker William C. Kirby lehrt an der Faculty of Arts and Sciences der Harvard University und ist Gastprofessor ehrenhalber an der Peking Universität. Er ist Direktor des renommierten Fairbank Center for East Asian Research der Harvard University. Als Autor mehrerer Standardwerke ist er einer der weltweit profiliertesten China-Experten. Kirbys Laufbahn ist eng mit der Freien Universität Berlin verknüpft: 1972 und 1973 studierte er hier Geschichte und Politikwissenschaft.

1996 kehrte er als Gastprofessor für chinesische Geschichte nach Dahlem zurück. Im Juni 2006 verlieh ihm der Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin die Ehrendoktorwürde. Ausgezeichnet wurde er für seine wissenschaftlichen Leistungen und sein Engagement für den transatlantischen akademischen Dialog in der Chinaforschung. Die Fachrichtung Sinologie richtete zu diesem Anlass ein internationales Symposium zur Internationalisierung Chinas aus. cwe