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Freie Universität Berlin | Kommunikations- und Informationsstelle

50 Jahre nach Brechts Tod schließt die Edition der „Briefe an Bertolt Brecht im Exil“ eine der letzten Forschungslücken

Nein, ein verlässlicher Korrespondent war Bertolt Brecht nicht. „Ich weiß, dass Sie so gut wie nie auf Briefe antworten. (So jedenfalls ist Ihr Ruf.) Was soll ich machen?“, schreibt Hannah Arendt 1946 an den Dichter und fasst damit zusammen, womit viele Briefpartner Brechts zu kämpfen hatten. Rund 1500 Billettes erhielt der in Augsburg geborene Dramatiker in den 15 Jahren seines Exils in Prag, Wien und Zürich, in Skandinavien und in den USA. Dass er viele davon beantwortete, davon zeugt bereits die „Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe“ der Briefe Brechts. Doch wie viele Freunde und Kollegen mit ihrer Post immer wieder eine Antwort des Dramatikers einforderten, zeigen erst jene Zuschriften, die Brecht in der Zeit seines Exils erhielt. Jetzt – 50 Jahre nach dem Tod des Autors der „Dreigroschenoper“ – werden diese Briefe im Rahmen eines Forschungsprojekts am Institut für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin editiert. Ein Vorhaben, dessen Dimension die Wissenschaftler selbst überrascht.

„Wir haben ursprünglich damit gerechnet, rund 800 Briefe zusammenzutragen“, sagt Professor Hermann Haarmann, Leiter des Projekts „Dear Bertie! – Briefe an Bertolt Brecht im Exil 1933–1948“. Zusammen mit seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Toralf Teuber und dem Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs, Dr. Erdmut Wizisla, arbeitet der Exil-Forscher an einem der letzten noch fehlenden Steine im großen Mosaik der Brecht-Forschung. Dank der Unterstützung der Kooperationspartner – allen voran das Bertolt-Brecht-Archiv in Berlin, aber auch das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, die Exil-Abteilung der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main und die University at Albany/USA – fanden die Forscher in den Archiven und Einzelbeständen der Akademie der Künste in Berlin sehr viel mehr Schriftstücke als anfänglich vermutet. Hinzu kamen umfangreiche Funde in drei Nachlässen, die die Akademie der Künste jüngst neu erworben hat: die Briefe-Sammlung des bulgarisch-deutschen Film- und Bühnenautors Slatan Theodor Dudow, die Zusendungen der Schweizer Filmemacherin Reni Mertens-Bertozzi und der in der Schweiz aufgespürte Nachlass des Grafikers und Gewerkschaftsfunktionärs Victor N. Cohen. Allein letztgenannte Sammlung enthält 140 meist unveröffentlichte Briefe von Brecht und 220 Briefe an den Dramatiker. Alles Unterlagen, die aus Brechts Zeit des amerikanischen und Schweizer Exils stammen. Für die Wissenschaftler ein „sensationeller Fund“.

Statt der erwarteten 800 konnten so in den vergangenen zwei Jahren tatsächlich rund 1500 Briefe an „Dear Bertie!“ (so adressierte der Maler George Grosz den Dramatiker) zusammengetragen, gesichtet und transkribiert werden. „Damit sind unsere Hoffnungen natürlich weit übertroffen worden“, sagt Professor Hermann Haarmann. Durch die neu hinzugekommenen Funde aus der Zeit des Exils können die Lücken im riesigen Puzzle der Brecht'schen Briefe-Edition nun endlich geschlossen werden. „Mit jedem Brief wird das Bild deutlicher, und plötzlich liegen vor einem ganze Episoden über Brecht und seine Zeit auf dem Tisch“, erklärt Toralf Teuber. Denn obwohl Brechts Briefe aus dem Exil bereits bekannt und editiert sind, so blieb bislang vieles in der Kommentierung dieser umfangreichen Korrespondenz noch bruchstückhaft.

Die Briefe, die die Zeit des Exils dokumentieren, sind Zeugnis einer Epoche des Umbruchs, der Enttäuschung und Hoffnung. Denn die Exiljahre bedeuteten für den Dichter nicht nur eine Zäsur in der Biografie, sondern auch in seiner künstlerischen Produktion. „Anders als seine dezidiert parteipolitisch orientierten Kollegen, die gerade wegen dieser Parteinahme in der Sowjetunion vorerst günstige Bedingungen für die Fortsetzung ihrer Arbeit fanden, wusste Brecht eine gewisse Distanz und damit ästhetische Autonomie zu bewahren“, sagt Haarmann. So handeln die Briefe an Brecht nicht nur von politischen Debatten und Problemen der marxistischen Theorie, häufig geht es auch um die Suche von Kollegen nach gemeinsamer Arbeit im Exil. Es gibt Anfragen nach Aktionsmöglichkeiten und Projekten, die das Leben außerhalb der Grenzen Deutschlands finanzieren sollen.

Gleichzeitig erreicht Brecht, der nach seiner Flucht aus Deutschland zunächst in verschiedenen europäischen Städten lebt, die Mitteilung aus Berlin, dass sein monatliches Honorar eingestellt wird. Für den Verlag Felix Bloch Erben sei es „unter diesen veränderten Umständen einfach untragbar , die monatlichen Zahlungen in Höhe von 1000,- RM aufrecht zu erhalten“.

Vor allem geht es in den Briefen an Brecht aber um den Fortgang der literarischen Produktion und die Sicherung der öffentlichen Wirksamkeit der Arbeit Brechts. Literaturagenten und Lektoren bitten vielfach um Berichte zum Arbeitsprozess, die Schreibintentionen und Wünsche zur Gestaltung des Drucks. Aber auch sehr Privates ist zu finden. Zu den bewegenden Zeugnissen gehört ein Brief Heinrich Manns, der sich am 27. Dezember 1944, zehn Tage nach dem Selbstmord seiner Frau Nelly, für das Beileid Brechts bedankt: „In der Nähe Ihres herzlichen Gefühles habe ich Ihre Dichtungen, von denen ich viele kannte, nochmals gelesen. Sie sind schön wie je, aber in meinem Zustande der Verlassenheit bemerke ich mehr als sonst die leidende Empfindung in der scheinbaren Härte.“

Für Toralf Teuber bedeutet das Erfassen von 1500 Dokumenten eine enorme Sisyphusarbeit. „Viele der Briefe sind nicht mit der Schreibmaschine geschrieben, sondern noch handschriftlich verfasst und kaum leserlich“, erklärt der Wissenschaftler. Zudem kommt der Zeitdruck, denn die unvermutete Flut von Briefen einzeln abzutippen, ist in der finanziell gesicherten Förderzeit von zwei Jahren schier unmöglich. Hightech muss hier helfen. Mit einer modernen Texterfassungs-Software diktiert der Kommunikations- und Theaterwissenschaftler die Briefe in seinen Computer. Der Rechner wandelt die Audiodateien in Schriftstücke um, so dass der Wissenschaftler nur noch Korrekturen einfügen muss.

Zusätzliche Schwierigkeiten bereiten Briefe, von denen nur abgeschnittene Kopien existieren, oder Kopien, die nur die Vorderseite, nicht aber die Rückseite eines Briefbogens dokumentieren. Und selbst im Archiv der Akademie der Künste vorliegende Transkriptionen sind nicht immer verlässlich. So heißt es beispielsweise in einer Übertragung einer Nachricht des Komponisten Hanns Eisler an Brecht: „Dieser Mann ist anti-sozial geworden“ (gemeint ist George Grosz). Bei genauer Betrachtung des Originalbriefes ist jedoch zu lesen: „Dieser Mann ist anti-sozialist geworden.“ „Da wundert es nicht mehr, wie fehlerhaft und schludrig manche Briefausgabe ediert wurde“, so Hermann Haarmann.

Gefördert wurde das Editionsprojekt bislang durch die Fritz Thyssen Stiftung. Doch die zunächst auf zwei Jahre angelegte Finanzierung des Unternehmens fußte auf der Annahme von 800 Briefen, die es aufzuspüren galt. „Da die Grundlage der Entscheidung nun bei Weitem überschritten wurde und damit ein baldiger Abschluss nicht zu erwarten ist, wird die Edition durch die Stiftung nicht weiter unterstützt“, klagt Projektleiter Haarmann. Dabei verlange gerade der Erfolg, der sich im Aufspüren und Zusammentragen von rund 1500 Exil-Briefen an Brecht dokumentiere, nach weiterer Förderung. So muss sich Haarmann nun auf die Suche nach neuen finanziellen Mitteln begeben. Denn die Edition soll auf jeden Fall zum Abschluss geführt werden. Auch wenn die Wissenschaftler für die nun anstehende Kommentierung ihrer reichen Funde noch mindestens zwei weitere Jahre benötigen.

Von Ortrun Huber