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Vergessen, aber nicht verschwunden

Weil Kinderlähmung noch immer nicht ausgerottet ist, versuchen Virologen, das Poliovirus zu kontrollieren

Von Adelheid Müller-Lissner

„Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam.“ An diesen prägnanten Impf-Werbeslogan können sich alle, die die 60er-Jahre des vorigen Jahrhunderts bewusst miterlebt haben, noch gut erinnern. Denn seit 1962 war der Schutz gegen die Kinderlähmung – medizinisch: Poliomyelitis – nicht mehr mit einem schmerzhaften Pieks verbunden, sondern ließ sich angenehm mit einem getränkten Stückchen Zucker erreichen.

Die damals neue, bequeme, aber hochwirksame und deshalb bald beliebte Vorbeugung mit dem Impfstoff, in dem sich abgeschwächte, aber vermehrungsfähige Viren befanden, führte allerdings in extrem seltenen Fällen zu den gefürchteten Lähmungserscheinungen, die mit der Impfung gerade vermieden werden sollten. Und das auch bei Menschen, die nicht selbst geimpft worden waren, sondern nur mit Geimpften Kontakt hatten. „Die abgeschwächten Impfviren können sich genetisch so verändern, dass sie im Ausnahmefall Nervenzellen infizieren“, erklärt Heinz Zeichhardt, Virologe am Institut für Virologie am Campus Benjamin Franklin der Charité. Diese Fälle von Impf-Poliomyelitis machten vor einigen Jahren Schlagzeilen, auch wenn diese Zwischenfälle nur nach ungefähr einer von 2,5 Millionen Impfungen vorkamen. Wasser auf die Mühlen von Impfskeptikern und Impfgegnern.

Wegen der Restgefahr der Impf-Poliomyelitis ist man in Europa von der Schluckimpfung deshalb weitgehend abgekommen. Seit 1998 empfiehlt die beim Berliner Robert-Koch-Institut angesiedelte Ständige Impfkommission (STIKO) einen Impfstoff, für den nicht vermehrungsfähige Viren verwendet werden. Dass er gespritzt werden muss, fällt für die kleinen Impflinge nicht weiter ins Gewicht, denn er ist im Kombinationsimpfstoff enthalten, der je nach Impfstoff auch gegen Diphtherie, Tetanus, Masern, Mumps und Keuchhusten schützt. Mit der Schluckimpfung lassen sich heute aber noch immer in kurzer Zeit sehr große Bevölkerungsgruppen schnell immunisieren – ein Vorteil, der nach wie vor für Länder der Dritten Welt gilt.

In unseren Breiten ist die Kinderlähmung als gefährliche Infektionskrankheit heute nahezu unbekannt. Vor wenigen Jahrzehnten war die Polio-Situation in den USA und Europa jedoch noch völlig anders. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es hier zu echten Epidemien. Allein im Jahr 1952 waren in Deutschland fast 10 000 Menschen neu erkrankt. Paradoxerweise war es gerade die zunehmende Hygiene, die die Kinderlähmung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem großen Gesundheitsproblem der Industrienationen werden ließ. Durch die Trennung von Trink- und Abwasser und die Einführung der Kanalisation schlossen Säuglinge und Kleinkinder nur noch selten mit dem Erreger aus der Familie der Enteroviren Bekanntschaft. Die Kinderlähmung war damit nicht mehr die typische Kinderkrankheit, als die sie ihr Name eigentlich ausweist. Wenn man später als Jugendlicher oder Erwachsener den Keim zum Beispiel im Schwimmbad einfing, weil man mit Fäkalien verunreinigtes Wasser geschluckt hatte, lief man Gefahr, heftiger zu erkranken. „Ich kann mich selbst noch gut daran erinnern, wie wir als Kinder in der Mitte der 50er-Jahre ausgerechnet im Sommer nicht ins Schwimmbad gehen durften“, erzählt der Biologe Ernst-Ludwig Winnacker, langjähriger Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in seinem Buch „Viren – die heimlichen Herrscher“.

Heute geht man davon aus, dass 90 bis 95 Prozent der Menschen, die sich durch Aufnahme des Erregers in den Mund angesteckt haben, keine Symptome zeigen, das Virus aber dennoch mit dem Stuhl weiter übertragen können. Trotz fehlender Krankheitszeichen entwickeln die Infizierten einen Immunschutz, die so genannte stille Feiung. Bei vier bis acht Prozent der Menschen, die erkennbar erkranken, ist das Zentralnervensystem nicht betroffen. Nur bei einer kleinen Minderheit von 0,1 bis ein Prozent der Infizierten wird die Kinderlähmung zu dem Leiden, das die alten Ägypter brutal als „Krüppelkrankheit“ etikettierten: Die Viren befallen die Zellen im Rückenmark, die die Muskelbewegungen steuern. Diese Vorderhornzellen werden zerstört oder zumindest schwer geschädigt, es kommt zu den gefürchteten Lähmungen. Krücken, Beinschienen und der Rollstuhl werden zu unentbehrlichen Hilfsmitteln, so wie für den US-amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt (1882 bis 1945), der 1921 als Erwachsener an Polio erkrankte und zeitlebens auf den Rollstuhl angewiesen blieb. Nach einiger Zeit bilden noch gesunde Nervenzellen meist Aussprossungen zu den Muskelfasern, die durch den Ausfall ihrer „Kollegen“ nicht mehr versorgt wurden. Auf die Dauer kann das jedoch zur Überbeanspruchung von Nerven- und Muskelzellen führen.

Bei diesen Patienten – in Deutschland mehr als 30 000 Menschen – tritt dann das so genannte „Post-Polio Syndrom“ auf. Diese Spätfolgen der Poliomyelitis zeigen sich darin, dass die Patienten Jahrzehnte später Gelenk- und Muskelschmerzen bekommen, sich ungewöhnlich müde und schwach fühlen und teilweise sogar Probleme beim Atmen haben. Besondere Verdienste bei der Betreuung dieser Patienten hat sich die Polio Selbsthilfe e.V. erworben.

Auch wenn das Poliovirus auf dem Rückzug ist, bleibt es in der Forschung doch weiter präsent. Es gehört zur Familie der Picornaviren, kleinen RNA-Viren, deren andere Mitglieder, etwa die Rhino- und Coxsackieviren, Nase, Leber oder auch das Herz als Zielorgan im Visier haben. Zeichhardt und sein Mitarbeiter Hans-Peter Grunert haben sich mit Grundlagenforschern und Medizinern zusammengetan, um nach Substanzen zu suchen, die der Vermehrung dieser Viren in den Zellen ihrer unfreiwilligen Wirte Einhalt gebieten. „Wir setzen mit der Blockierung auf verschiedenen Ebenen an, indem wir das Virus entweder schon am Andocken auf der Zelloberfläche hindern, seine Nukleinsäurevermehrung oder seine Reifung verhindern“, erläutert Zeichhardt. Dafür arbeitet er mit Volker Erdmann und Jens Kurreck vom Institut für Biochemie der Freien Universität Berlin und mit den Kardiologen um Heinz-Peter Schultheiss, Henry Fechner und Andrea Dörner vom Charité Campus Benjamin Franklin zusammen. Wenn die Polio hierzulande wieder ein Problem werden sollte, könnten die Wissenschaftler ihre Erkenntnisse zur Bekämpfung der Rhino- und Coxsackieviren schnell auf das Poliovirus übertragen, versichern sie

Obwohl Europa im Jahr 2002 mit einer Zertifizierung ganz offiziell als „poliofreie Region“ eingestuft wurde, fordert die WHO, dass die Labors das Virus im Ernstfall weiterhin zweifelsfrei diagnostizieren können. Ringversuche, mit denen eine große Anzahl von Laboren auf ihre diagnostische Qualität hin geprüft werden kann, sind seit Jahren ein Schwerpunkt von Zeichhardts Arbeit. Für diese externe Qualitätskontrolle arbeitet er mit Eckart Schreier und Sabine Diedrich vom Robert- Koch-Institut zusammen. Dafür werden unter anderem auch Polioimpfviren zu Testzwecken an Labors verschickt. Der Versand erfolgt nach der national und international vorgegebenen Transportverordnung in Biocontainern.

Noch ist die Kinderlähmung, entgegen den Zielen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und im Unterschied zu den Pocken, nicht gänzlich ausgerottet, in einigen Ländern Afrikas und Asiens erkranken in jedem Jahr Hunderte von Menschen neu. Der Weltpoliotag, der in jedem Jahr am 28. Oktober, dem Geburtstag des Infektionsforscher Jonas E. Salks (1914 bis 1995), begangen wird, soll dazu beitragen, die Bedrohung im öffentlichen Bewusstsein präsent zu halten. „Auch bei uns könnte der Wildtyp des Virus’ jederzeit leicht wieder eingeschleppt werden, wir müssen also weiter achtsam sein“, sagt Virologe Zeichhardt. Und er ergänzt: „Um Europa poliofrei zu halten, ist eine Durchimpfungsrate von mindestens 90 Prozent erforderlich.“ Um in den Ländern der Dritten Welt die letzten Schritte der Polio-Ausrottung erfolgreich zu Ende zu führen, müssen die von der WHO und den jeweiligen nationalen Gesundheitsbehörden geleiteten Impfprogramme weiterhin mit voller Kraft verfolgt werden.