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Shop around the Clock

1996 öffneten die Läden erstmals bis 20 Uhr – nun fällt auch diese Schranke

Von Christine Boldt

Vor zehn Jahren, zum 1. November 1996, wurden die Ladenöffnungszeiten in Deutschland liberalisiert: Geschäfte durften von da an werktags zwischen sechs und 20 Uhr öffnen, sonnabends bis 16 Uhr, Bäckereien auch sonntags frisch gebackenen Brötchen verkaufen. Ein Rückblick.

Und plötzlich war alles anders. Wer bislang bei Ladenschluss noch im Büro saß und von frischem Gemüse fürs Abendessen nur träumen konnte, freute sich jetzt über offene Läden nach Dienstschluss. Der Einzelhandel entdeckte den „Abendkunden“: junge Großstädter unter 45 Jahren mit gleichermaßen hoher Schulbildung wie Kaufkraft. Eine gern gesehene Zielgruppe, der die neuen Einkaufszeiten bestens ins Lebenskonzept passten. Anfang 1999 waren nach einer Umfrage des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung sogar 84 Prozent der Deutschen zufrieden oder sehr zufrieden mit der Neuerung.

Auf Seiten des Einzelhandels war das Echo gemischt: Nahezu alle Unternehmen mit einem Jahresumsatz von damals mehr als 25 Millionen D-Mark ließen ihre Geschäfte nun länger geöffnet. Als Gewinner entpuppten sich vor allem die Filialketten, die durch ihre Größe einen wirtschaftlich längeren Atem haben. Für Inhaber kleinerer Läden ergab es nur Sinn, länger zu öffnen, wenn sie an günstigen Standorten angesiedelt waren. Längere Öffnungszeiten konnten diese Einzelläden nur durch Mehrarbeit oder mithilfe neuer Teilzeitkräfte durchhalten.

Neue Arbeitsplätze oder eine markante Steigerung des Umsatzes brachte die Neuregelung nicht. „Um die Mehrarbeit leisten zu können, hat der Einzelhandel verstärkt Teilzeitkräfte eingestellt. Dadurch haben aber die prekären Arbeitsverhältnisse, etwa 400-Euro-Jobs, zugenommen“, resümiert Uwe Täger, ehemaliger ifo-Bereichsleiter und seit Jahrzehnten mit dem Thema Ladenschluss beschäftigt. Auch die – parallel zur Liberalisierung der Öffnungszeiten verlaufende - schlechte Konjunkturlage der letzten Jahre gilt als mitschuld an den nur geringen wirtschaftlichen Auswirkungen der neuen Einkaufsmöglichkeiten. Der Einzelhandel selbst spricht lieber von „Umsatzverlagerung“ – durch Einkäufe am Abend und am Wochenende. Trotzdem: Wer sich mit seinem Sortiment, guter Beratung und flexiblen Öffnungszeiten auf die „neuen“ Kunden eingestellt hat, darf sich auch über höhere Umsätze freuen.

Grundsätzlich führt an flexibleren Öffnungszeiten kein Weg vorbei, will man die Einkaufsmöglichkeiten den sich wandelnden Lebens- und Arbeitsgewohnheiten der Menschen anpassen, sagen Konsumentenforscher – und halten die Ladenschluss-Diskussion für ein sehr „deutsches“ Problem: „Der Kunde soll selbst entscheiden, wann er einkauft. So ist es in den USA. Warum sollte es bei uns anders sein?“, argumentiert Peter Weinberg, Gastprofessor am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin und früherer Leiter des Instituts für Konsum- und Verhaltensforschung an der Universität des Saarlandes. Erklärungen für den „deutschen“ Weg beim Thema Ladenschluss gibt es freilich: die starke Tradition des Mittelstandes und die ursprüngliche Verankerung des Ladenschlussgesetzes im Arbeitszeitrecht.

Mit dem „Langen Donnerstag“ wehte schon Mitte der 1980er Jahre ein zarter Hauch von großer, weiter Welt durch die Städte der oft als Servicewüste gescholtenen Republik. Ab dem 5. Oktober 1986 durften die Geschäfte immer donnerstags bis 20 Uhr 30 öffnen. Und plötzlich wurde der schnöde Einkauf zum „Event“. Die Maxiversion des „Langen Donnerstag“, die „Lange Nacht des Shoppings“, – die im Jahr 2000 als Protestveranstaltung gegen den Ladenschluss erfunden wurde – schwimmt auf derselben Welle. Die Strategie, zeitgeistgemäß Handel mit den Bereichen Unterhaltung, Kultur und Gastronomie zu verknüpfen, geht auf, so Alfred Kuß, Professor am Marketing-Department der Freien Universität Berlin: „Einkaufen ist inzwischen eine Freizeitbeschäftigung neben anderen nach dem Motto: Gehe ich heute Shoppen, in die Kneipe oder ins Kino?“

Der Trend zum Event, der durch die flexibleren Öffnungszeiten unterstützt wird, fördert auch die Gründung von Unternehmen mit neuen Strukturen, meint Jürgen Lembcke, Leiter des Deutschen Seminars für Städtebau und Wirtschaft (DSSW). Ihm zufolge gehört kleinen, spezialisierten Geschäften an guten Standorten mit besonderen Angeboten für Spätabendeinkäufer die Zukunft. Der Wein- und Käseladen etwa, der abends auch Restaurant ist, oder der kleine Kiosk, der dann öffnet, wenn die Großen geschlossen haben

Im Zuge der Föderalismusreform ist das Ladenschlussgesetz nun von Bund- in Länderkompetenz gewechselt und erneut gelockert worden. Rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft dürfen die Läden in Berlin ab Dezember rund um die Uhr öffnen, außerdem an den Adventssonntagen von 13 bis 20 Uhr. Das kommt vor allem bei der von der Wirtschaft umworbenen Zielgruppe der „jungen, kaufkräftigen Späteinkäufer“ an. Denn Ebay und e-Commerce kennen schließlich auch keinen Ladenschluss. Das verwöhnt.

Die Autorin ist Öffentlichkeitsbeauftragte am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin und koordiniert das DFG-Graduiertenkolleg „Pfade organisatorischer Prozesse“.