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Wider das Vergessen

An der Freien Universität Berlin sind fast 52 000 Interviews von Holocaust-Zeitzeugen erstmals außerhalb der USA verfügbar

Von Ortrun Huber

„Vergeben ist ganz einfach – aber vergessen, das ist sehr, sehr schwer.“ Der alte Mann, der das sagt, kann nicht vergessen. Und er hätte entsetzlich viele Gründe, nicht zu vergeben. Werner Bab ist 82 Jahre alt. Als er 18 Jahre alt war, deportierte man ihn ins Konzentrationslager Auschwitz. Obwohl schon für die Gaskammer „selektiert“, konnte er dem sicheren Tod entgehen. 1945 wurde er von der US-Armee befreit.

Seit einigen Jahren erzählt Werner Bab seine Geschichte. Er geht in Schulklassen, berichtet von Zwangsarbeit, Hunger und Tod unter der Nazi-Herrschaft. Den Auslöser für sein Engagement war ein einziges Interview: das Gespräch mit Mitarbeitern der Shoah Foundation in Berlin.

Das historische Video-Archiv gilt als das größte seiner Art weltweit

Erläuterten die Interviews: Präsident Dieter Lenzen, Holocaust-Überlebender Werner Bab und Douglas Greenberg, Direktor des Shoah Foundation Institute.

Erläuterten die Interviews: Präsident Dieter Lenzen, Holocaust-Überlebender Werner Bab und Douglas Greenberg, Direktor des Shoah Foundation Institute. Foto: B. Wannenmacher

Die Shoah Foundation geht auf Hollywood-Regisseur Steven Spielberg zurück. Während der Dreharbeiten zu Spielbergs Spielfilm „Schindlers Liste“ im polnischen Krakau hatten zahlreiche Holocaust-Überlebende den Wunsch geäußert, vor der Kamera über ihre Erinnerungen zu berichten. 1994 rief Spielberg deshalb die gemeinnützige Organisation zur Dokumentation von Zeitzeugenberichten des Holocaust ins Leben. Erklärtes Ziel der Stiftung war es, die Schilderungen von Überlebenden zu filmen, um die persönlichen Erinnerungen und Lebenswege als Unterrichts- und Ausbildungsmaterial zu bewahren. In 56 Ländern wurden fast 52 000 Gespräche geführt mit Zeitzeugen und Überlebenden des Holocaust. Interviews in 32 Sprachen, davon rund 25 000 auf Englisch und etwa 900 auf Deutsch. So auch das Gespräch mit Werber Bab, das nun wieder nach Berlin zurückkehrt. Denn die Freie Universität Berlin kann jetzt als erste Hochschule außerhalb der Vereinigten Staaten einen elektronischen Zugang zu dem Archiv des „Shoah Foundation Institute for Visual History and Education“ der University of Southern California (USC) anbieten. Das historische Video-Archiv gilt als größtes seiner Art weltweit.

Die Shoah Foundation ist seit diesem Jahr – nachdem das 120 000 Stunden lange Video-Material vollständig digitalisiert und verschlagwortet worden ist – Teil der University of Southern California in Los Angeles. Diese stellte die Interviews bislang ausschließlich Wissenschaftlern in den USA zur Verfügung – am eigenen Institut und an vier weiteren Hochschulen. Die Freie Universität Berlin macht diese einzigartige Quellensammlung nun Studierenden, Lehrenden, Forschenden und interessierten Gastwissenschaftlern online zugänglich. „Das einzigartige Archiv des Shoah Foundation Institute erweitert unsere Möglichkeiten, die Forschung über den Nationalsozialismus, insbesondere den Holocaust und die Rassenverfolgung, auf vielfältige Weise voranzutreiben“, sagt der Präsident der Freien Universität, Dieter Lenzen. „Geschichte besteht nicht nur aus Zahlen und Fakten, sondern auch aus persönlichen Lebenswegen und Schicksalen – und genau diese dokumentiert das Archiv.“ Den Kontakt zum Shoah Foundation Institute stellte der US-amerikanische Förderkreis „Friends of Freie Universität Berlin“ in New York her. Er beteiligt sich auch an der Finanzierung eines Teams, das das Visual History Archive am Center für Digitale Systeme (CeDiS), dem hochschuleigenen Kompetenzzentrum für E-Learning und Multimedia, pflegt. „Dieses besondere Projekt muss unterstützt werden, damit die nachfolgenden Generationen begreifen, dass solche Gräueltaten nie wieder vorkommen dürfen“, sagt Hélène Sostarich-Barsamian, Geschäftsführerin der „Friends of Freie Universität Berlin“.

Dass das Visual History Archive just an der Freien Universität angesiedelt ist, liegt jedoch nicht nur an den guten Kontakten der Hochschule in die USA. 1948 von Studierenden mit Hilfe von Wissenschaftlern und mit Unterstützung der USA gegründet, kann die Freie Universität – anders als andere große deutsche Universitäten, die ihre NS-Vergangenheit derzeit aufarbeiten – unbelastet mit einem so sensiblen Material umgehen. „Wir freuen uns deshalb außerordentlich, dass die Freie Universität Berlin nun zu den Institutionen gehört, die dieses außergewöhnliche Forschungsmaterial zur Verfügung stellen und uns damit helfen, den Begriff der Freiheit weiterzutragen“, sagt Professor Douglas Greenberg, Direktor des Shoah Foundation Institute.

Das längste Gespräch erstreckt sich über mehr als 17 Stunden

Ein Großteil der Interviews gibt die Erinnerungen von Überlebenden des Holocaust wieder: Juden, Homosexuelle, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas und politisch Verfolgte. Aber auch andere Zeitzeugen wie Helfer, Retter, Befreier und Zeugen der Befreiung sowie Involvierte in die Kriegsverbrecherprozesse wurden interviewt. Die Interviews dauern in der Regel zwei bis drei Stunden. Das längste Gespräch erstreckt sich über mehr als 17 Stunden. „Wollte jemand das ganze Material sehen, müsste er vierzehn Jahre lang Tag und Nacht vor dem Bildschirm sitzen“, sagt Douglas Greenberg. Jedes Interview thematisiert die Lebensgeschichten der Betroffenen vor, während und nach dem Nationalsozialismus. So dokumentiert das archivierte Filmmaterial des Visual History Archives nicht nur den Holocaust, sondern zeichnet auch ein umfassendes Bild des jüdischen Lebens vor 1933 und nach 1945.

Die aufwändige Verschlagwortung der Interviews macht das Videoarchiv besonders wertvoll für Wissenschaftler und Studierende. Die 52 000 Gespräche können über eine Personensuche mit 1,2 Millionen Namen und über 50 000 Schlagworte erschlossen werden. Dies ermöglicht auch die Verwendung des Filmmaterials für Forschungsprojekte, die sich nicht unmittelbar mit den Inhalten „Holocaust“ und „Rassenverfolgung“ beschäftigen, sondern andere Themen untersuchen – etwa das Leben jüdischer Emigranten nach 1945.

Besondere Bedeutung soll das Visual History Archive auch im Zusammenhang mit der universitätsweiten Initiative für Blended Learning, also der Ergänzung der Präsenzlehre durch multimediale E-Learning-Anwendungen, erlangen. „Wir erarbeiten nun mit Wissenschaftlern der unterschiedlichen Disziplinen Einsatz-Möglichkeiten der Interviews in Multimedia-Modulen für verschiedene Seminare“, sagt Dr. Nicolas Apostolopoulos, der Leiter des Center für Digitale Systeme (CeDiS) der Freien Universität Berlin. Konkrete Gespräche gibt es zurzeit mit den Fachbereichen Geschichts- und Kulturwissenschaften, Philosophie und Geisteswissenschaften, Erziehungswissenschaften und Psychologie sowie Politik- und Sozialwissenschaften.

Auch Gedenkstätten und Forschungseinrichtungen außerhalb der Freien Universität haben bereits Interesse an der Nutzung des Visual History Archive bekundet. So würde etwa Norbert Kampe, Leiter der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz, die Interviews gerne auch für seine Institution auswerten. Derzeit ist das Archiv allerdings nur für Mitarbeiter und Studierende der Freien Universität zugänglich. In den kommenden Wochen will das Präsidium entscheiden, in welcher Weise außeruniversitäre Interessenten Zugang zu dem Material erhalten können. „Natürlich wollen wir die Quellen für alle öffnen, die ein seriöses Interesse daran haben“, sagt Nicolas Apostolopoulos. Allerdings müsse ein Missbrauch der sensiblen Daten ausgeschlossen werden. Zudem sei die aufwändige technische Infrastruktur für das Archiv nicht einfach von anderen Einrichtungen zu übernehmen. „Denkbar ist, dass wir zukünftig als Dienstleister auftreten, um außeruniversitäre Anfragen an das Archiv in Absprache mit dem Shoah Foundation Institute zu bedienen“, sagt der CeDiS-Leiter.

Für die Überlebenden des Holocaust ist das Visual History Archive ein Fenster in die Zukunft. Denn immer weniger Zeitzeugen können noch wie Werner Bab den Jüngeren das Unfassbare berichten. Kritischen Stimmen, die die mündlichen Überlieferungen der Zeitzeugen als zu ungenau oder beliebig abtun, hält der 82-Jährige seine Überzeugung entgegen: „Wichtig ist doch, dass die Aussagen der Überlebenden genutzt werden. Und ich bin dankbar, dass dies nun in Berlin möglich ist!“

Informationen im Internet: www.vha.fu-berlin.de