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Das Netz und der Fischer

Die katholische Kirche seit jeher Hierarchie und Netzwerk zugleich

Von Michael Bongardt

In der Adventszeit und an den Weihnachtsfeiertagen erfreuen sich die Kirchen gesteigerter Aufmerksamkeit. Gottesdienste werden besucht, Besinnliches und manchmal sogar Besinnung stehen auf dem Programm. Doch die Kirche war und ist mehr als ein Dienstleister in Sachen Frömmigkeit. Früh verbreitete sie sich in der gesamten ihr bekannten Welt, und mittlerweile leben sogar die meisten ihrer Mitglieder außerhalb Europas und des Mittelmeerraums. So ist die Kirche – vor allem die römisch-katholische als größte christliche Konfession – bis heute geblieben, was sie in bescheidenerem Maß schon früh war: ein „global player“. Eine solche Erfolgsgeschichte macht neugierig. Wie entging die Kirche dem Schicksal all der Institutionen und Staaten, die nach deutlich kürzerer Zeit zerbrachen? Welche Strukturen haben sich als stabil und flexibel genug erwiesen, ihre Existenz zu sichern?

„Die wundersame Vermehrung der Fische“ von Konrad Witz (1444): Das Neue Testament beschreibt die Kirche symbolisch als Netz.

„Die wundersame Vermehrung der Fische“ von Konrad Witz (1444): Das Neue Testament beschreibt die Kirche symbolisch als Netz. Foto:Seminar für Katholische Theologie

Nicht nur als ältester „global player“ wird die katholische Kirche bezeichnet. Sie gilt auch als älteste Monarchie. Schließlich ist sie streng hierarchisch aufgebaut: Dem Oberhaupt kommt Primatsgewalt zu, und ihre Entscheidungsstrukturen sind weit vom modernen Verständnis einer Demokratie entfernt. Wer mit dieser Sicht auf die Kirche vertraut ist, wird verwundert eine ihrer frühesten Selbstbestimmungen zur Kenntnis nehmen: Die Kirche, so wird in einem eindrücklichen Bild behauptet, sei ein Netzwerk.

Das Johannesevangelium erzählt, wie die Jünger nach dem Tod Jesu in Jerusalem in ihre galiläische Heimat und ihren Beruf zurückkehrten. Sie fischten die ganze Nacht im See Genezareth – erfolglos. Ein Fremder, in dem sie erst später den auferstandenen Jesus von Nazareth erkannten, trat hinzu. Nachdem sie auf seine Aufforderung das Netz erneut auswarfen, konnten sie „es nicht wieder einholen, so voller Fische war es“. Schon bald waren sich die Bibelexegeten einig: Das geschilderte Netz ist die Kirche. Das Bild, so ungewöhnlich es erscheint, beschreibt durchaus kirchliche Wirklichkeit. In den ersten drei Jahrhunderten waren die Christen eine gesellschaftliche Minderheit. Es war überlebenswichtig, ein tragfähiges Netz von Verbindungen zu knüpfen. Die Gemeindemitglieder suchten nach Formen gemeinsamen Lebens – von organisierter Nachbarschaft über die regelmäßige Feier des Gottesdienstes bis zur Unterstützung in Not. In diesem Netzwerk formten sich die Vorstellungen über christliches Leben, und die Kirche nahm allmählich Gestalt an. Es gewährleistete nicht nur den Zusammenhalt in der Gegenwart, sondern ermöglichte auch die Weitergabe des von den Älteren übernommenen Glaubens an die nachfolgende Generation. So entstand die Überlieferung des Glaubens, die zu bewahren die Kirche seit jeher als ihre Aufgabe gesehen hat. Christliche Gemeinden müssen ein solches Netz bilden, wenn sie lebendig bleiben wollen. Genauso aber gilt: Die einzelne Ortsgemeinde ist mit der Gesamtheit der Aufgaben überfordert. Um zu bestehen, müssen sich die Gemeinden ihrerseits vernetzen. Schon in der frühen Kirche wurden dafür Formen gefunden: gegenseitige Besuche und Beratungen, das Gebet füreinander und der Austausch von Briefen, deren älteste noch in der Bibel stehen.

Bis heute nimmt das „Netzwerk Kirche“ ständig neue Menschen und neue Ideen auf. Es wird größer und vielfältiger. Doch zugleich steigen die Schwierigkeiten. Nicht nur bedarf es erheblichen Aufwands, die wechselseitigen Verbindungen aufzubauen und zu pflegen. Vor allem wird die Frage immer drängender, wieviel Unterschiedlichkeit die Kirche verträgt, ohne ihre Identität zu verlieren. Was tun, wenn die Auffassungen über Leben, Lehre und Liturgie so weit auseinandergehen, dass es kaum noch möglich scheint, in Verbindung zu bleiben? Um derart schwierige Aufgaben zu bewältigen, brauchte es bald Fachleute. Ämter entstanden, deren Inhaber rituell eingeführt und legitimiert wurden – vor allem das Bischofsamt. Synoden wurden einberufen, in denen Bischöfe die Konflikte beizulegen suchten.

Zunehmend ausschließlich wurden die anstehenden Fragen von den Amtsträgern beantwortet. In der Kirche entwickelte sich eine immer strengere hierarchische Struktur. Ihren ersten Höhepunkt fand diese Entwicklung im vierten Jahrhundert. Kaiser Konstantin sah die Einheit des von ihm restaurierten Großreichs von kirchlichen Konflikten bedroht. Die regionalen Synoden schienen ihm zu schwach, um sein Bild von Einheit durchzusetzen. So berief er das erste Konzil ein, das sich ökumenisch, also weltumspannend nannte. In seiner Vorstellung sollte eine zentrale Leitung die Kirche zusammenhalten. Was die christliche Identität ausmachte, sollte zunehmend durch einheitliche Kirchenordnungen und Glaubensbekenntnisse bestimmt werden. Doch ausgerechnet dieser Versuch zerstörte bereits im vierten Jahrhundert die Hoffnung des Johannesevangeliums, das kirchliche Netzwerk sei vor dem Zerreißen gefeit. Selbst mit Gewalt konnte nicht verhindert werden, dass einzelne Gemeinden, ja ganze Regionalkirchen sich den zentralen Beschlüssen widersetzten. Sie trennten sich von der Großkirche oder wurden von ihr getrennt – was sie nicht hinderte, sich weiter als Christen zu bekennen.

Was im Osten mit Konstantin begann, fand im Westen seine Parallele in der Entwicklung des Papstamtes. Der Bischof von Rom gelangte zu einer auch politisch einflussreichen Vorrangstellung in der Kirche. In den Prozessen der Hierarchisierung wandelte sich die Funktion der bestehenden kirchlichen Netzwerke dramatisch: Waren die Verbindungen einst an der Basis, „von unten“, geknüpft worden, so kann eine hierarchische Leitung sie nutzen, um Beschlüsse „von oben“ schnell zu verbreiten. Das hierarchisch organisierte Geflecht, durch Gehorsam gegenüber dem Papst gekennzeichnet, erscheint wie das Gegenteil eines Netzwerks.

Doch hätte die monarchische Struktur das kirchliche Netzwerk zerstört und ersetzt, wäre die katholische Kirche vermutlich längst in ihren Strukturen erstarrt oder am Mitgliederschwund zugrunde gegangen. Die Entwicklung verlief anders: Immer wieder erhob und erhebt sich Widerspruch gegen die zentrale Organisation der Kirche sowie gegen Entscheidungen und Lebenswandel ihrer Würdenträger. Es treten Menschen auf, die der Kirche eine erneuerte Gestalt geben wollen – und sie bilden Netzwerke. Viele Orden entstanden auf diese Weise. Auch die von Martin Luther angestoßene Reformation wurde schnell zu einer großen, gut vernetzten Bewegung. Dabei verstehen sich die meisten Netzwerke nicht als antikirchliche, gar antichristliche Initiativen. Vielmehr beanspruchen sie ihren Platz innerhalb der Kirche. In einer solchen Konstellation stand und steht immer wieder die Entscheidung an: Verbindet sich das neue Netzwerk mit dem alten Geflecht? Oder sieht die Kirche nur im Bruch die Möglichkeit, ihre Identität zu sichern?

Ob all die Risse im Netz, die von der Kirche um ihrer Identität willen immer wieder in Kauf genommen wurden, wirklich notwendig waren, sei dahingestellt. Fest steht: Es wird für die Zukunft der katholischen Kirche viel davon abhängen, ob und wie es ihr weiterhin gelingt, die Spannung zwischen ihrer hierarchischen Form und den immer wieder entstehenden Netzwerken produktiv zu gestalten. In ihrer Absicht steht dies jedenfalls: Das bisher jüngste, das Zweite Vatikanische Konzil hat in seiner Beschreibung der Kirche diese Spannung bestätigt: Einerseits wird dort die monarchische Stellung des Papstes bekräftigt – andererseits aber auch betont, die Kirche bestehe „in und aus“ ihren Ortskirchen, mit anderen Worten: als das Netzwerk, das sie von Anfang an war.

Der Autor ist Professor am Institut für vergleichende Ethik der Freien Universität Berlin.

 

WISSENSCHAFTSMAGAZIN „fundiert“

Forschungsfeld „Netzwerke“ aus den unterschiedlichsten Bereichen

Der Artikel von Michael Bongardt ist in einer erweiterten Fassung in der neuen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „fundiert“ der Freien Universität Berlin zu lesen. Die aktuelle Ausgabe, die Anfang Dezember erschienen ist, beschäftigt sich mit dem weiten Forschungsfeld der „Netzwerke“. Aus den unterschiedlichen Fachbereichen und Forschungsrichtungen beleuchten und untersuchen Wissenschaftler der Freien Universität Berlin die verschiedenen Aspekte von Netzwerken: von der Small-World-Theorie, die besagt, dass jeder über sechs bis sieben Stationen mit jedem anderen Menschen auf der Erde vernetzt sein kann, über den Familienverbund und das nicht mehr wegzudenkende elektronische Netz bis hin zu nationalen und internationalen Politik- und Wirtschaftsnetzwerken. Der Leser erfährt unter anderem auch, wie schnell sich das Internet in China trotz aller staatlichen Restriktionen entwickelt und in welcher Form sich der Alltag durch das „Mobile Computing“ verändern wird. Außerdem geht es um die Frage, warum sich Kardinäle des Mittelalters in Netzwerken organisiert haben, und weshalb schon die Medici im Florenz des 14. Jahrhunderts Netzwerke nutzten. Das aktuelle Magazin ist die mittlerweile neunte Ausgabe der fundiert-Reihe. Bislang waren die Themen „Herz“, „Sprache“, „Seuchen und Plagen“, „Licht und Finsternis“, „Alter und Altern“, „Wasser“, „Sicherheit“ und „Arbeit“ erschienen. BW

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