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Die Wieder-Erfindung des Rades

Physiker untersuchen, wie sie einzelne Moleküle auf Oberflächen rollen können

Von Michael Fuhs

Nanomaschinen, die auf Oberflächen herumdüsen, Botschaften überbringen und Lasten tragen – die neueste Erfindung von Leonhard Grill nährt die Fantasie. Der Physiker vom Institut für Experimentalphysik der Freien Universität Berlin hat dem Baukasten der Nanotechnologen jetzt ein Element hinzugefügt, das aus der uns bekannten Makrowelt nicht wegzudenken ist: das Rad. Er arbeitet allerdings nicht an Nanorobotern für Science-Fiction-Filme, sondern an Bauteilen für eine Zukunftstechnologie. Molekulare Elektronik nennt sich sein Arbeitsgebiet.

Leonhard Grill lässt Nanoräder rollen – das funktioniert allerdings nur im Ultrahochvakuum, das dieser Apparat erzeugt. Foto: Freie Universität Berlin

Diese Technologie wird notwendig, wenn die Miniaturisierung weiter so voranschreitet wie in den letzen 30 Jahren. Dann müssten die Strukturen auf den Elektronikchips in etwa zwei Jahrzehnten auf wenige Nanometer geschrumpft sein, die Größenordnung von Molekülen. Schalter, Kontakte, Kabel – alles muss für die molekulare Elektronik neu erfunden werden. „Man möchte einzelne Moleküle verwenden, die dann die Funktionen von elektronischen Bauelementen erfüllen“, sagt Leonhard Grill.

Das Schema, an dem er seine Arbeit erklärt, könnte einem Spielzeugkatalog entnommen sein. Ein pastellfarbener, hellblauer Rumpf in der Mitte, daran hängen auf jeder Seite zwei ovale dunkelblaue Beinchen. Man hat den Eindruck, das Geschöpf mit dem englischen Namen Lander ist gerade gegen eine Treppenstufe gelaufen und daran hängen geblieben. Vorne liegt es auf, hinten steht es auf den Füßen. „Das sieht nach Spiel aus, weil die Konzepte so plakativ sind“, erklärt der Physiker.

In Wirklichkeit ist das Arbeitsgebiet hoch komplex und die Technologie, diese Nanostrukturen zu erzeugen und genau genug zu manipulieren, gibt es nur in wenigen Forschungslabors. Die „Treppenstufe“ ist eine Kante, die weniger als einen Nanometer aus der Kupfer-Oberfläche herausragt, auf der – um im Bild zu bleiben – das Spiel stattfindet. Der Rumpf des Lander ist ein Nanodraht aus einigen Duzend Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen mit rund zwei Milliardstel Metern Länge. Die Beinchen halten ihn in für seine Verhältnisse luftigen Höhen: Er schwebt etwa ein drei Milliardstel Meter über dem Untergrund. So haben es Leonhard Grill und seine Kollegen erreicht, dass der Nanodraht auf der einen Seite Kontakt hat und auf der anderen Seite durch den Abstand vom Untergrund nahezu isoliert ist.

Die Physiker erzeugen und untersuchen solche Nanostrukturen mit einem Rastertunnelmikroskop, für dessen Erfindung 1986 der Nobelpreis verliehen wurde. Eine extrem dünne Spitze aus Wolfram, dessen Ende im idealen Fall von einem einzigen Atom gebildet wird, wird sehr präzise über eine Oberfläche gesteuert. Sie tastet die Struktur ab, dabei wird der elektrische Strom durch die Spitze gemessen, und der Computer generiert aus den Informationen ein Bild. Wenn die Wissenschaftler das Gerät so einstellen, dass sie mit der Spitze Moleküle hin- und herschieben, können sie kleine Nanostrukturen herstellen und beispielsweise Bausteine wie den Lander kontaktieren. Obwohl die Moleküle dabei kleine Sprünge vollführen, geht das ziemlich genau. Allerdings nur, wenn die Oberfläche eben ist. Schon wenn kleine Stufen vorhanden sind, kann die Technik versagen.

Bei ähnlichen Problemen im täglichen Leben behilft man sich mit einer Erfindung, die rund 6000 Jahre zurückliegt: dem Rad. Jetzt hat Leonhard Grill erstmals gezeigt, wie auch im Nanobereich einzelne Moleküle gerollt werden können, und diese Arbeit in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Nature Nanotechnology“ veröffentlicht.

Für diese Forschung haben Grills Kooperationspartner am CNRS (Centre national de la recherche scientifique) im französischen Toulouse ein Gefährt mit zwei Nanorädern gebaut, deren Durchmesser mit weniger als einem Milliardstel Meter 100000 Mal kleiner als der eines menschlichen Haares ist. Die beiden Räder sind durch eine Art Achse aus Atomen miteinander verbunden und ähneln jeweils einem Propeller mit drei Rotorblättern. Im Ruhezustand berühren auf beiden Seiten jeweils zwei der drei Blätter den Boden, sodass das Gefährt stabil steht. Jeweils ein Rotorblatt steht in die Höhe. Wird das Gefährt mit der Spitze des Rastertunnelmikroskops angeschoben, kippen die Räder eine Drehung weiter. Sie drehen sich.

Das zu erkennen, stellt die Wissenschaftler allerdings vor noch größere Schwierigkeiten als die Konstruktion des Nanorads. Die einzige Messgröße ist der Strom, der durch die Spitze des Rastertunnelmikroskops fließt. Da beim Drehen kurzeitig nur ein Bein auf jeder Seite Kontakt mit der Oberfläche hat, ändert sich beim Rollen der Strom in periodischen Abständen. „Diese Periode passt genau zur Abmessung des Rades, und deshalb sind wir uns sicher, dass sich das Rad wirklich dreht“, sagt Leonhard Grill. Je nach Bedarf kann er das Nanorad auf der Oberfläche rollen oder springen lassen.

Beim Rollen liegt die Bewegungsrichtung fest, was zur Herstellung spezieller Strukturen von Vorteil sein kann. Vielleicht können Moleküle sogar Stufen auf der Oberfläche „hinaufrollen“. „Das wäre sehr interessant, haben wir aber noch nicht untersucht“, sagt der Physiker. Schon einmal wollte er einen Nanoschubkarren für Moleküle bauen. Jetzt, mit den neuen Ergebnissen, könnte das klappen.