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Die veränderte Republik

Warum Deutschland nach der Wiedervereinigung ein anderes Land geworden ist

Von Klaus Schroeder

Klaus Schroeder ist Professor am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin und leitet die Arbeitsstelle Politik und Technik und den Forschungsverbund SED-Staat. In seinem gerade erschienenen Buch: „Die veränderte Republik“ analysiert der Autor die Konkurrenzfähigkeit Deutschlands in einer globalisierten Welt und lädt zum notwendigen Streit über die Lage des Landes und seine Perspektiven ein. Der nachfolgende Text gewährt einen Einblick in seine Thesen.

Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und dem Ende des Kalten Krieges, die den Deutschen die Einheit in Freiheit brachten, hat sich die Welt stärker als prognostiziert gewandelt. Neue Konfliktlinien und Unsicherheiten entstanden; die Zukunft wurde für viele Menschen auch in Deutschland prekärer. Gut 16 Jahre nach der Wiedervereinigung zeigt sich dabei zunehmend deutlich, dass sich das Leben durch den Systemwechsel nicht nur für die Ostdeutschen grundlegend verändert hat. Denn seit Mitte der 1990er-Jahre lässt sich der Trend beobachten, dass der Westen sich in immer mehr Bereichen – bedauerlicherweise auch bei der sinkenden Demokratiezufriedenheit und der abnehmenden Präferenz von Freiheit gegenüber Sicherheit – dem Osten annähert. Nur allmählich rückt eine nicht mehr zu übersehende Erkenntnis in das öffentliche und politische Bewusstsein: Die Republik ist eine andere geworden.

Die Bewertung der Vereinigungsbilanz fällt widersprüchlich aus: Unbehagen an der Einheit ist gleichermaßen unter Ost- wie Westdeutschen vorhanden, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven. Viele Ostdeutsche halten das durch gewaltige Finanztransfers aus dem Westen in ihren Landstrichen und Haushalten Geschaffene für selbstverständlich und sehen weitergehende Ansprüche als nicht erfüllt an. Westdeutsche entwickelten angesichts der anhaltend hohen Vereinigungskosten, welche für sie nachhaltige Wohlstandseinbußen bedeuten, ebenfalls Zweifel an der Einheit und vor allem an dem von der Politik eingeschlagenen Vereinigungsweg.

Der größte Teil der Bevölkerung in Ost und West verfügt inzwischen über annähernd gleiche materielle Ressourcen. Bei Einkommen und Vermögen hat sich für die breite Mehrheit der Bevölkerung ein öffentlich kaum wahrgenommener Angleichungsprozess vollzogen. So liegen die tatsächlich ausgezahlten Renten im Osten deutlich höher als im Westen, und sogar das durchschnittliche Vermögen pro ostdeutschem Haushalt hat unter Berücksichtigung der kapitalisierten Ansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung inzwischen etwa 80 Prozent des westdeutschen Niveaus erreicht. Die durchschnittlichen Geldvermögen stiegen im Osten anteilig von 18,7 Prozent (1990) auf knapp 52 Prozent (2003) der West-Verhältnisse. Selbst dieser Anteil fiele deutlich höher aus, wenn nicht die oberen Zehntausend zumeist in Westdeutschland lebten. So gesehen ist die „innere Einheit“ materiell inzwischen erreicht, aber andererseits sind sich die Deutschen in Ost und West immer noch weitgehend fremd geblieben, und es fehlt an der Akzeptanz unterschiedlicher Lebensläufe und Einstellungen. In Selbstverständnis, sozialer Struktur, Mentalitäten, Geschichtsbildern sowie dem Verständnis von Politik und Gesellschaft unterscheiden sich die beiden Teilgesellschaften nach wie vor deutlich; es lässt sich nicht leugnen, dass die ostdeutsche Gesellschaft in ihrem Kern nach wie vor eine postsozialistische ist.

Viele Probleme und Missstimmungen der Vereinigung waren und sind freilich unvermeidbar. Die erheblichen und tiefgreifenden Unterschiede in der Wirtschaftskraft, der politischen Ordnung, der sozialen Differenzierung und den Mentalitäten waren nun einmal vorhanden und konnten sich nicht innerhalb weniger Jahre auflösen. Auch gab es zur westdeutschen Dominanz im Vereinigungsprozess keine Alternative, denn die Bewohner der alten Länder und anfangs auch die der neuen hätten jede andere Form der Vereinigung mit breiter Mehrheit abgelehnt.

Die meisten Ostdeutschen wollten so leben wie im Westen, nahezu alle Westdeutschen jedoch so weiterleben wie bisher. Dabei geriet allerdings aus dem Blick, dass die alte Bundesrepublik ähnlich reformbedürftig war wie die neuen Länder. 16 Jahre später wird deutlich, dass der Verzicht auf eine umfassende Modernisierung als Kardinalfehler der Vereinigungspolitik angesehen werden kann. Trotz aller Probleme verlief die Vereinigung besser als es die Stimmung in Ost und West ausdrückt. Positiv gesehen ist das vereinte Deutschland eine normale Gesellschaft geworden, deren Sonderbedingungen entfallen sind und die nun mit den gleichen Problemen wie andere Länder zu kämpfen hat. Negativ gesehen steht Deutschland durch die Veränderungen vor der Frage, ob die in Zeiten des Wohlstands entstandene Akzeptanz der freiheitlich-demokratischen und pluralen Ordnung stärker als in Ländern mit ungebrochener demokratischer Tradition ernsthaft bedroht ist. Nüchtern betrachtet mangelt es Deutschland vor allem an einem Konsens über Grundüberzeugungen, einem Zusammengehörigkeitsgefühl und Leitlinien, wie die Zukunft aussehen soll. Dies ist vor allem Resultat eines im internationalen Vergleich unterentwickelten Nationalgefühls, das die Herausbildung einer gemeinsamen Identität erschwerte. So stellen sich für uns Deutsche weiterhin die Fragen: Wer sind wir?

Was wollen wir? Jenseits der Banalität, dass Deutschland größer und international einflussreicher geworden ist, werden die Veränderungen vor allem auf nachfolgenden Feldern sichtbar:

Die Zusammensetzung der Bevölkerung hat sich seit 1989/1990 nicht nur durch die Vereinigung, sondern auch – was häufig übersehen wird – durch millionenfache Zuwanderung von Ausländern und Deutschstämmigen geradezu dramatisch gewandelt. Mehr als jeder dritte derzeit in Deutschland Lebende wurde in einem anderen gesellschaftlichen und politischen System sozialisiert. Der in Westdeutschland seit den 1960er-Jahren vorhandene breite Konsens über die politische und gesellschaftliche Ordnung ist seit der Vereinigung im Westen geschrumpft und im Osten mehrheitlich weiter nicht vorhanden. Die Zivilgesellschaft gerät inzwischen mancherorts in die Defensive.

Die Zeit der Wohlstandszuwächse ist für eine Mehrheit der Westdeutschen mit der Vereinigung und für die meisten Ostdeutschen nach der Wohlstandsexplosion bis Mitte der 1990er-Jahre vorbei. Auf absehbare Zeit wird es in Deutschland nichts Zusätzliches mehr zu verteilen geben, sondern vor allem um die Verteilung des Vorhandenen gestritten werden.

Als Erbe der DDR hat sich die in Linkspartei/ PDS umbenannte und gewandelte SED inzwischen fest im deutschen Parteiensystem etabliert. Durch den Wechsel vom Vier- zum Fünf-Parteien-System werden zukünftig wahrscheinlich jenseits von großen Koalitionen nur noch Drei-Parteien-Koalitionen möglich sein. Spätestens nach der Wahl 2005 sind, abgesehen von der FDP, alle Parteien nach „links“ gerückt. Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und das Ende des Kalten Krieges führten zur Erweiterung des Weltmarktes und zur Beschleunigung der Globalisierung. Dadurch hat sich der Wettbewerbsdruck auch für Deutschland erhöht. Während große Konzerne durch ihre Internationalisierung und ihren hohen Exportanteil an Stärke gewinnen konnten, haben sich die Bedingungen für kleine und mittlere Unternehmen nicht nur in den neuen Ländern vor allem aufgrund der Konkurrenz aus Ost- und Mitteleuropa verschlechtert.

Die Fehler der Vereinigungspolitik – vor allem ihre Finanzierung über die Sozialkassen und einen gigantischen Anstieg der Staatsverschuldung – lassen sich nur durch eine grundlegende Reform des Sozialstaates überwinden. Der fehlgeschlagene Aufbau Ost erzwingt insofern eine umfassende Modernisierung der deutschen Wirtschafts- und Sozialordnung. Erst wenn diese von Politik und Gesellschaft überzeugend begonnen wird, würde der Blick auf das Erreichte nicht mehr durch unbeabsichtigte negative Folgen der Politik getrübt. Bei allen Schwierigkeiten und Widrigkeiten im Detail sollten wir nicht vergessen, dass zumal angesichts der gleichzeitigen Einwanderung von Millionen Menschen diese gewaltige und ohne Vorbild vollzogene Aufgabe der Vereinigung zweier über Jahrzehnte geteilter Landesteile eine historisch beispiellose Leistung war und ist.

Klaus Schroeder: „Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung“, 767 Seiten, Verlag Ernst Vögel, München, Stamsried 2006.