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Preußen in Ägypten – Ägypten in Preußen

Ein Forschungsprojekt untersucht die Königlich-Preußische Expedition nach Ägypten (1842–1845)

Von Stephan Johannes Seidlmayer

Die Faszination für das Alte Ägypten ist eine Konstante der Kultur Europas. Und das koloniale Ausgreifen Europas in den Nahen Osten schuf dieser Faszination im 19. Jahrhundert auch intellektuell einen neuen Rahmen. Die Erfassung der ägyptischen Altertümer durch Forscher im Gefolge der napoleonischen Expedition bereitete der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen durch Jean François Champollion den Weg– der Beginn der wissenschaftlichen Ägyptologie. Unter den Gelehrten in Berlin fand diese bahnbrechende Leistung begeistertes Interesse und ließ den Entschluss reifen, die neue Wissenschaft in Deutschland zu verankern. Der Schlüssel dazu war die wissenschaftliche Expedition, die König Friedrich Wilhelm IV. unter der Leitung von Richard Lepsius in den Jahren 1842 bis 1845 nach Ägypten entsandte. Sie führte Preußen nach Ägypten und brachte Ägyptisches heim nach Preußen.

Beide Brüder Humboldt waren maßgeblich beteiligt, das Projekt in die Wege zu leiten. Ausersehen, die wissenschaftliche Führung zu übernehmen, war Richard Lepsius, ein junger Mann, der sich mit einem Stipendium der Preußischen Akademie seit den 1830er-Jahren auf Reisen in Europa das damalige Wissen über das Alte Ägypten angeeignet hatte. Sein Verdienst war es, die Expedition zu planen und mit Geschick und Glück eine Gruppe hervorragender Mitarbeiter, darunter Zeichner, Maler, Architekten und Gipsformer zu gewinnen. Mit der Genehmigung durch Mohammed Ali, den damaligen Regenten Ägyptens, landete die Expeditionsmannschaft im September 1842 in Alexandria. Im Verlauf der folgenden drei Jahre folgte sie dem Nillauf südwärts bis tief in den Sudan („Äthiopien“, wie man damals sagte) und noch über Khartum den Weißen Nil hinauf. Rückwärts wurde das Niltal erneut durchmessen und mit einem Abstecher auf den Sinai über das „Heilige Land“ der Rückweg angetreten.

Unterwegs erledigte die Mannschaft ein dichtes Programm. Im Zentrum stand die Dokumentation der altägyptischen Denkmäler. Landschaftsbilder, topographische Pläne und Architekturaufnahmen wurden angefertigt, vor allem die Bilder und Inschriften kopiert. Parallel dazu wurden Originalstücke für das Berliner Ägyptische Museum gesammelt. Die Ergebnisse des Unternehmens liegen in einer Publikation vor, den Tafel- und Textbänden der „Denkmäler aus Aegyten und Aethiopien“, einem Werk von so rücksichtsloser Monumentalität, dass man scherzte, man müsse zu den Büchern einen preußischen Grenadier ausliefern, damit man die Riesenbände überhaupt hantieren könne.

Aber auch die originale Materialgrundlage dieser Publikation, die Zeichnungen, Pläne und Papierabklatsche sind erhalten. Sie befinden sich im Lepsius-Archiv des „Altägyptischen Wörterbuches“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die Tage- und Notizbücher im Archiv des Ägyptischen Museums (Stiftung Preußischer Kulturbesitz) – ein kostbarer Besitz und Verpflichtung ebenso zur Erhaltung wie zur wissenschaftlichen Bearbeitung dieses Erbes und damit Ausgangspunkt aktueller Projekte und Reflexionen.

Glorreich heimgekehrt, erhielt Lepsius einen Lehrstuhl für Ägyptologie an der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, den ersten in Deutschland, nach Paris den zweiten weltweit. Wissenschaftlich steht die preußische Expedition für einen methodischen Quantensprung. Nach der Entzifferung der Hieroglyphen erreichten die hier entstandenen Zeichnungen ein modernes Niveau in der Wiedergabe altägyptischer Bilder und Inschriften. Deshalb wird dieses gedruckte Werk noch heute als wissenschaftliche Quelle benutzt, haben doch nicht wenige Originale inzwischen schweren Schaden genommen oder sind ganz verschwunden.

Herausragend war der Fortschritt auch auf dem Gebiet der Bauforschung. Das ist das Verdienst Georg Gustav Erbkams, des Geodäten und Architekten, des „zweiten Mannes“ der Expedition. Im Ausgrabungsprojekt des Ägyptologischen Seminars der Freien Universität Berlin in der Pryamidennekropole von Dahschur konnten wir die Karte, die Erbkam in wenigen Wochen gezeichnet hat, mit unseren eigenen Aufnahmen vergleichen. Immer wieder hatten wir Gelegenheit, mit Staunen zu sehen, wie Fundstellen, die wir „entdeckt“ hatten, doch auf Erbkams Plan schon eingetragen waren. Seine Bauaufnahmen – Pläne, Aufrisse, Schnitte mit exakter Vermaßung – suchen in älteren Publikationen ihresgleichen. In den Bereichen Epigraphik und Bauforschung etablierte diese Expedition neue Professionalität auf dem entstehenden Gebiet der Ägyptologie – und setzte damit die Anfänger der jungen Disziplin gleich an deren Spitze.

Der Blick auf das Land wird ganz neu in bislang unpublizierten schriftlichen Zeugnissen Georg Erbkams erschlossen, einem dreibändigen Tagebuch sowie einem ungefähr gleichgewichtigen Konvolut von Briefen, die Dr. Elke Freier, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Altägyptischen Wörterbuch, in einem für die Kenntnis der Expedition zentralen Forschungsprojekt zusammengetragen, transkribiert und kommentiert hat. In aller Intimität zeigen sie, wie dieser Mann Ägypten als das große Erlebnis seines Lebens begriffen hat. Man kann dabei nicht umhin, das Anekdotische zu genießen, die ganzen Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten einer Reise in ein Land, das damals noch nicht erschlossen (und teils ernsthaft gefährlich) war. Der kolossale „Stress“, unter dem Lepsius stand, wird deutlich. Berühmte Episoden, wie der Überfall auf das Lager in Saqqara, der entsetzliche Wintersturm, der die Zelte in Giza einmal wegschwemmte, sind mit Humor geschildert – auch, wo sich die Preußen weniger heroisch hielten… Löst man sich vom Reiz des Persönlichen, sind die Verhältnisse im vorkolonialen Ägypten von besonderem Interesse. Die Antrittsbesuche bei den lokalen Autoritäten, die zu absolvieren waren, belegendenständigenbehördlichen Kontakt. Dieser war essentiell, aber auch prekär, brachte er doch die Expedition in die Spannung zwischen den staatlichen Autoritäten und der lokalen Bevölkerung.

Und was kam aus Ägypten nach Berlin? Die Bücher, Bilder, Texte wurden schon genannt. Vor allem aber hatte die Preußische Expedition Originaldenkmäler für das Ägyptische Museum im Gepäck. Autorisiert durch Muhammad Ali wurden etwa drei Kultkammern von Gräbern des Alten Reiches nach Berlin gebracht. In Berlin wurde die Sammlung im „Neuen Museum“ausgestellt; freilich wirkt die damalige Präsentation auf den modernen Betrachter beinahe verstörend. Der Baukörper des Museums war durch eine nachgemachte ägyptische Architektur verkleidet, die Wände mit großformatigen Kopien aus dem Denkmälerwerk gleichsam tapeziert. Die Originalstücke standen wie Beiwerk dazwischen. Und doch zeigt sich darin die wichtigste Erkenntnis, die Lepsius in Ägypten gewonnen hatte, die innige Bindung der Denkmäler an ihre Kontexte an sakralen Orten der Landschaft und der kulturellen Erinnerung. Offenkundig reicht die Bedeutung der Preußischen Expedition weit über das kleine Gebiet der Ägyptologie hinaus. Sie zeigt exemplarisch, wie sich der Blick Europas auf den „Orient“ formierte und erweist die Beschäftigung mit dem Alten Ägypten als zentralen Baustein im hier entstehenden intellektuellen Gefüge. Und es bleibt ein beachtliches Forschungsprogramm zu absolvieren. Wir Ägyptologen spielen dabei den Ball wesentlich anderen Disziplinen zu – Historikern, Kunsthistorikern, Islamwissenschaftlern – und hoffen, in dieser Zusammenarbeit entscheidend weiterzukommen. Ein Editionsprojekt der Schriften Georg Erbkams, dankenswert unterstützt durch die Stiftung Preußische Seehandlung, ist auf gutem Wege; eine interdisziplinäre Tagung und eine Ausstellung sind für dieses Jahr geplant. Und in dieser Zusammenarbeit der Institutionen – der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Staatlichen Museen (Stiftung Preußischer Kulturbesitz) und der Freien Universität – und der hier vertretenen, herausragenden Fachkompetenz knüpft Berlin an seine große Vergangenheit als Zentrum der Wissenschaft an, das die Königlich-Preußische Expedition nach Ägypten ermöglicht hat.

Der Autor ist Professor am Ägyptologischen Seminar der Freien Universität Berlin.