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Eine gewisse lyrische Stimmung

Maßvoll modernisiert, erstrahlt der Henry-Ford-Bau in neuem Glanz

Von Gerwin Zohlen

Man sieht nur, was man schon weiß: Selten kommt Architekturkritik so an ihre Grenzen wie beim Henry-Ford-Bau der Freien Universität Berlin. Architekturkritik ist im besten Fall eine Schule des Sehens. Aber weder das Steinwerk der gebogenen Ostwand noch das weite Foyer mit seinen elegant eingehängten Freitreppen, nicht die weit auskragende Dachplatte oder die eng rhythmisierten Pfeiler entlang der Garystraße lassen erkennen, was sich in diesem Bauwerk ereignete, als es zu seiner überragenden Bedeutung gelangte und, kurz, zu einer Inkunabel der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit wurde. Im Auditorium maximum sieht man weder die Nikotinschwaden der Sit-ins, Teach-ins und Vollversammlungen, die in den sechziger und siebziger Jahren den großen Raum aus den Fugen geraten ließen, noch hört man die peitschende Rhetorik und hämmernde Argumentation der Studentenführer, die sich um das „Weltsubjekt und die Gerechtigkeit“ mehr kümmerten als um ihre eigene Bequemlichkeit und Gesundheit.

Trotz einer Gesamtfläche von 18 000 Quadratmetern gleicht der Henry-Ford-Bau alles andere als einem Monumentalbau. Durch die Verglasung der beiden Längsseiten des Foyers haben die Architekten eine Leichtigkeit erzielt, die die eigentliche Masse des Gebäudes fast vollständig aufhebt. Die vertikal gegliederte Hauptfassade erstreckt sich zur Garystraße (Abb. 1). Zur Boltzmannstraße bildet die Glasfront  der repräsentativen Eingangshalle (Abb. 3) eine zweite Fassade und, gemeinsam mit zwei nach vorne ragenden Gebäudetrakten, den Ehrenhof (Abb. 2). Benannt ist der Bau nach Henry Ford II., den auch gebildete Zeitgenossen gerne mit seinem antisemitisch gesonnenen Großvater Henry Ford I. verwechseln. Er hatte veranlasst, dass die US-amerikanische Ford Foundation die Finanzierung des Gebäudekomplexes in Höhe von rund acht Millionen D-Mark übernahm. Die jüngsten Sanierungs- und Umbaumaßnahmen des Henry-Ford-Baus wurden von den Referaten Bauplanung und Baudurchführung der Freien Universität Berlin geplant und betreut. Fotos: Reinhard Görner, Florian Bolk, Bernd Wannenmacher

Natürlich stehen der Architektur nicht die Namen von Rudi Dutschke, Herbert Marcuse, Hans Jürgen Krahl, Ernest Mandel und anderen auf die Stirn geschrieben; nicht der Mut Eberhard Lämmerts, der durch die grollende Menge Studenten im Audimax ging, um eine Kritik der Germanistik im Dritten Reich vorzutragen. Im kleinen Hörsaal hört man auch nicht den gemessenen Takt, den der Religionsphilosoph Klaus Heinrich über Jahre mit dem Finger in das „Verhältnis von transzendentalem und ästhetischem Subjekt“ klopfte. Und doch sind es solche Namen und Ereignisse, mit denen der Henry-Ford-Bau ins Buch der Geschichte eingetragen wurde. Denn hier bewährte sich über eine lange Dekade, was ihm Mitte der fünfziger Jahre in der Gründungsurkunde aufgetragen wurde. Die Freie Universität solle sich als „Bastion geistiger Freiheit“ behaupten und diese Freiheit „mit Entschiedenheit“ auch vom Staat, der sie trage, einfordern. So hatte es der seinerzeitige Bundesinnenminister Gerhard Schröder 1954 formuliert.

Man darf darüber nachdenken, ob die Studentenbewegung wirklich im Horizont des Gemeinten lag. Das Bekenntnis zur Freiheit von Geist und Bildung zielte ja auf den Konflikt mit der DDR und Ost-Berlin, wo die Humboldt-Universität schon lange vor dem Mauerbau dem sozialistischen Dirigismus unterworfen war. Aber man muss eben auch die Leistung der bundesrepublikanischen Demokratie honorieren, dass ihr nicht nur die politische Integration der Studentenbewegung gelang, sondern sie den Henry-Ford-Bau auch als deren Symbolbau akzeptierte.

Bereits die Kürung der Architekten Franz Heinrich Sobotka und Gustav Müller im Wettbewerb von 1951 stand unter der Sigle des politischen Statements durch die Architektur. Sobotka und Müller waren damals Newcomer, die mit großen Bauaufgaben noch nicht hervorgetreten waren. Dennoch wurden sie den viel bekannteren Architekten Gebrüder Luckhardt mit Alfons Anker oder Herrmann Fehling vorgezogen. Sobotkas und Müllers Entwurf nämlich trug „dem Charakter einer Universität durch eine gewisse lyrische Stimmung Rechnung“ und verschaffte der politischen Intention der Freien Universität angemessen Ausdruck, „eine Protestgründung gegen die Unterdrückung des Geistes durch die Steppe“ zu sein, wie der Rektor Edwin Redslob sagte.

Gemeint war damit, dass Sobotka und Müller nicht der reinen Lehre des Avantgardismus von Le Corbusier oder Walter Gropius gefolgt waren. Sie hatten keine Kuben auf dünne Pilotis gesetzt, sondern die moderne Interpretation traditioneller Pathosformeln der Architektur gewagt. So die aus Pilastern gefügte Fassade zur Garystraße, deren strenge, vertikale Ordnung in der mächtigen Dachplatte rasch als Anverwandlung eines alten Tempelmotivs erkannt wurde. Auch hatten sie sich keineswegs der „Flucht aus dem Baukörper“ angeschlossen, wie es damals als Abwendung vom Monumentalismus des Dritten Reichs zum Muss der avancierten Architektur zählte. In der modernen Gesinnung der fünfziger Jahre sollte Architektur ja eigentlich ihr Verschwinden lernen; man denke nur an Sepp Rufs Kanzlerbungalow in Bonn. Nicht so Sobotka und Müller. Sie arrangierten die Baukörper selbstbewusst entlang zweier Achsen, die Bibliothekstrakt und Hörsaalgebäude verbinden. Allerdings kaschierten sie deren Scheitelpunkt geschickt durch die versetzt und vorspringend laufenden Stockwerke, unter denen der eine Hauptzugang zum Henry-Ford-Bau an der Garystraße liegt.

Ein Coup, vielleicht ein kleiner Geniestreich ist die sich dahinter öffnende, 75 Meter lange Halle, die das Audimax und die Hörsäle verbindet. In ihrem Mittelteil ist sie beidseitig komplett verglast. Geradezu leichtfüßig vereint sie die Funktionen eines Opernfoyers mit denen von Piazza und Forum, die Repräsentativität mit der demokratischen Öffentlichkeit und diskursiven Pluralität. Geräumig und von Licht durchflutet, gewinnt sie durch die frei eingehängte Galerie, zu der die Treppen hinaufführen, eine Eleganz, die sie weit über den Geschmack ihrer Entstehungszeit hinaushebt und zu einer gültigen und nach wie vor äußerst ansehnlichen Raumfindung werden lässt.

Zumal sich auf ihrer Ostseite ein weiteres Pathosmotiv der Architektur anschließt, die Figur des Ehrenhofs, der seine Ehrbezeugung nicht kirchlicher oder weltlicher Macht erweist, sondern dem Grünzug der Campus-Universität, der hier sein Ziel findet. Die Seitenwände werden geformt von der Pfeilerwand des Audimax und ihm gegenüber dem leicht aus der Achse gedrehten Hörsaalgebäude, wobei letzteres dem Hof die traditionelle Strenge nimmt. Dass Sobotka und Müller mit diesen Pathosformeln bewusst umgingen, zeigt sich nicht nur an der Natursteinwand als Abschluss des Audimax, deren Symbolik stets im Bollwerk, der Abwehr des Ost-Sozialismus gesehen wurde, sondern auch an der ionischen Säule, die sie im Wettbewerbsentwurf frei in den Ehrenhof stellten; ein Memento des Architektonischen in der Architektur. Man könnte, nein, sollte sie jetzt dort aufstellen! Sie ist ein Hinweis auf die „reflexive Moderne“, der Sobotka und Müller avant la lettre verpflichtet waren.

Übrigens gewinnt der Henry-Ford-Bau aus solchen Gründen von vornherein und anders als andere Architekturstile ohne jede Eye-Catching-Allüre seine Identität und Kenntlichkeit durch die ureigenen architektonischen Mittel; ein Paradebeispiel für die kritische Besinnung auf die jüngere Architekturgeschichte zwischen dogmatisierter Moderne und architektonischer Kunst.

Zu einem Kernstück solcher Besinnung gehört, dass es über die Architekten des Henry-Ford-Baus fast keine Literatur gibt, obwohl sie etwa mit der IHK und Börse in der Fasanenstraße, dem Schimmelpfenghaus am Breitscheidplatz oder dem Wohnhochhaus am Roseneck zu den das Stadtbild West-Berlins mit am meisten prägenden Architekten zählen. Möglich, dass das an ihrem parti pris für die konservative Moderne gegen den Avantgardismus lag. Immerhin spannt sich über ihre Architektur eine imaginäre Brücke vom Henry-Ford-Bau zum Springer-Hochhaus in der Kochstraße, das ebenfalls aus ihrer Hand stammt: Was sich an intellektueller Protestenergie in Dahlem sammelte, entlud sich in mancher Mai-Nacht am Ort der medialen Macht in Kreuzberg.

Im maßvoll modernisierten und vortrefflich sanierten Zustand strahlt der Henry-Ford-Bau heute fast stärker noch als ehedem. Man erkennt seine großartige Raum- und Baufigur wieder klar und unverstellt, weil bei der Sanierung manche Schrankwand und Nutzungswucherung entfernt wurde, um ein helles Ausstellungsfoyer zu schaffen. Auch wurde die Vorliebe der fünfziger Jahre für die gebrochene Farbpalette von moosigem Grün und Grau durch den klaren Kontrast von Schwarz und Weiß ersetzt, so dass der Henry-Ford-Bau nun als ein Juwel der Geschichte aus Politik und Architektur in unsere Universitätstage funkelt, ein grandioses Zeugnis doch von beiden.

Der Autor ist Architekturkritiker und Alumnus der Freien Universität Berlin.