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Es tönen die Lieder: Der Frühling

IM BLICKPUNKT DER FORSCHUNG Der Frühling

Auch wenn Frühlingsweisen nicht mehr in aller Munde sind, gehören sie doch bis heute zum Kulturgut

Von Ortrun Huber

Alle Vögel sind schon da,
alle Vögel, alle.
Welch ein Singen, Musizieren,
Pfeifen, Zwitschern, Tirilieren!
Frühling will nun einmarschieren,
kommt mit Sang und Schalle.

Als der niedersächsische Dichter Hoffmann von Fallersleben sein Gedicht von „Amsel, Drossel, Fink und Star“ 1843 erstmals veröffentlichte, konnte er nicht ahnen, dass er damit die Textgrundlage für eines der bekanntesten deutschen Frühlingslieder schaffen sollte. Die volkstümliche Melodie, die Marie Nathusius in Anlehnung an ein altes Volkslied aus dem 15. Jahrhundert schrieb, kennt bis heute fast jedes Kind. Eine Popularität, die durchaus nicht alle Frühlingslieder genießen. Denn obwohl unzählige deutsche Dichter von Johann Wolfgang Goethe über Heinrich Heine bis Bertolt Brecht sich vom ersten Grünen und Blühen inspirieren ließen und mit ihren Gedichten lyrische Textvorlagen lieferten, können viele Frühlingslieder, die sich daraus entwickelten, heute nicht mehr als Gemeingut gelten: „In vielen Familien wird – teils aus Unkenntnis, teils aus vermeintlicher Unmusikalität – gar nicht mehr gesungen“, erklärt Dr. Christoph Henzel, Privatdozent am Musikwissenschaftlichen Seminar der Freien Universität Berlin. Selbst in der Schule habe der Liedgesang heute einen schweren Stand. Ein Manko mit historischem Hintergrund. Denn die unkritische Verwendung von Liedern als „Gemeinschaftsstifter“ und „Werteübermittler“ galt im Schulunterricht nach den Erfahrungen der NS-Zeit lange als problematisch. Der Soziologe und Musiktheoretiker Theodor W. Adorno veröffentlichte in den 1950er-Jahren Thesen gegen musikpädagogische Musik, und auch andere Forscher wie der Musikwissenschaftler Walter Gieseler zielten zu dieser Zeit in dieselbe Richtung: „Singen ist nicht nur nicht notwendig, sondern auch schädlich, da zur Manipulation führend“, so seine These. In der Folge war das Singen im Musikunterricht weitgehend verpönt. Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre wurde vor einer vorrangigen Stellung des Liedes in den Lehr-Rahmenplänen sogar gewarnt. Eine radikale Position, die erst Ende der 1970er-Jahre langsam wieder aufweichte. Heute tritt das Liedersingen im Musikunterricht wieder gleichberechtigt neben allen möglichen Formen der Produktion und kritischen Rezeption von Musik auf. „Volkslieder wie die Frühlingslieder lernen die heutigen Schulkinder dabei aber wohl eher selten“, vermutet Henzel.

Komm, lieber Mai, und mache
die Bäume wieder grün
und lass mir an dem Bache
die kleinen Veilchen blühn!
Wie möchte ich doch so gerne
ein Veilchen wieder sehn,
ach, lieber Mai, wie gerne
einmal spazieren gehn!

Ob „Komm, lieber Mai, und mache“, „Im Märzen der Bauer“ oder „Winter adé“ – per wissenschaftlicher Definition sind die meisten heute noch bekannten Frühlingslieder „Volkslieder“. „Volkslieder sind Melodien, die entweder im Volk entstanden sind, deren Dichter oder Komponist also nicht mehr bekannt sind, oder Lieder, die ,volksmäßig‘, also schlicht in Melodie und Harmonie komponiert sind und dadurch für jedermann einfach zu singen“, erklärt Musikwissenschaftler Henzel. So ließ sich beispielsweise Wolfgang Amadeus Mozart von einem Gedicht aus der Textsammlung „Fritzchens Lieder“ des Lübecker Bürgermeisters und Dichters Christian Adolf Overbeck inspirieren und schrieb noch in seinem letzten Lebensjahr 1791 die Melodie zu „Komm, lieber Mai, und mache“. Von anderen Stücken, die das Ende der kalten Jahreszeit besingen, ist häufig nur bekannt, aus welchem Land oder aus welcher Epoche sie stammen. Über die Weise „Der Winter ist vergangen, ich seh’ des Maien schein“ weiß man etwa, dass der Text altniederländischer Herkunft ist, wohingegen die Melodie des Stücks erstmals in Thysius’ Lautenbuch um 1600 auftauchte. „Im Märzen der Bauer“ ist eine alte Volksweise aus Mähren, der Verfasser des Textes gilt als unbekannt. „Die Tatsache, dass wir heute überhaupt wissen, woher diese alten Frühlingslieder stammen, verdanken wir Forschern wie Johann Gottfried Herder oder Ludwig Erk“, so Christoph Henzel. Ende des 18. Jahrhunderts begannen diese Melodiensammler das Land zu bereisen und aufzuschreiben, was die Bauern auf den Feldern und die Knechte bei der Arbeit sangen. „Diese ersten Text- und Volksliedsammlungen, in denen auch viele der heute bekannten Frühlingslieder Eingang fanden, entsprachen natürlich der romantischen Idealisierung der Zeit und der Vorstellung von einer Volksseele, die in den Melodien unverfälscht zum Ausdruck kommt“, erklärt der Musikwissenschaftler. Allerdings legten sie damit auch die Grundlage für die wissenschaftliche Erforschung der Volkslieder.

Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen bald kommen.
- Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist's!
Dich hab ich vernommen!

Bei weitem nicht alle Frühlingsmelodien waren jedoch von vornherein für einen breiten Sängerkreis gedacht. So schrieb Robert Schumann, einer der wichtigsten Komponisten der deutschen Hochromantik, mehr als 300 Klavierlieder, die für die Aufführung im Konzertsaal durch Sänger und Pianist bestimmt waren. Die Texte gingen fast ausschließlich auf hervorragende zeitgenössische Lyriker wie Heinrich Heine oder Joseph von Eichendorff zurück. In seinem „Liederalbum für die Jugend“ setzte Schumann beispielsweise Eduard Mörikes Frühlingsverse vom flatternden blauen Band („Er ist's“) musikalisch um. „Der Ausdruck und die Stimmung der lyrischen Textvorlage werden in diesen Kunstliedern bis ins Detail in der Vertonung wiedergegeben. Dadurch entstehen höchst anspruchsvolle Gesangsstücke, die mit dem volkstümlichen Frühlingslied nichts mehr zu tun haben“, erläutert Musikwissenschaftler Christoph Henzel.

Veronika, der Lenz ist da,
Die Mädchen singen tralala.

Auch wenn Frühlingslieder heute nicht mehr in aller Munde sind, so hat sich doch die eine oder andere Melodie im Gedächtnis der Menschen gehalten. Vor allem alte Schlager aus den 1920er- und 1930er-Jahren wie „Veronika, der Lenz ist da“, „Im Prater blühen wieder die Bäume“ oder „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“ sind noch heute populär. „Diese Stücke stammen teilweise aus Operetten oder sind durch Radio und Schallplatte bekannt geworden“, erklärt Christoph Henzel. „Durch ihre eingängigen Melodien und die unterhaltsamen Texte erfreuten sich diese Lieder schnell großer Beliebtheit."

Sucht man hingegen im modernen, deutschsprachigen Liedgut nach dem Thema „Frühling“, wird man enttäuscht. Für Pop- und Rockmusiker scheint der Lenz kaum noch eine Rolle zu spielen. Immerhin könnte man das Lied „Frühling“ der Gitarrenrocker „Sportfreunde Stiller“ aus dem Jahr 2004 als eine moderne Interpretation traditioneller Frühlingsweisen betrachten. Bei den „Sportfreunden“ heißt es im Refrain: „Und ich warte mal wieder auf den Frühling, man kann nicht nur traurige Lieder singen. Doch bald werden sie wieder anders klingen, wenn die ersten Sonnentage Wärme bringen.“