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Hochkonjunktur für die Kultur

DAS JAHR DER GEISTESWISSENSCHAFTEN Das ABC der Menschheit

Viele Einzeldisziplinen begründen den Erfolg der Geisteswissenschaften an der Freien Universität

Von Klaus W. Hempfer

Auch Wissenschaften kennen Konjunkturen. Die Geisteswissenschaften haben gegenwärtig Hochkonjunktur, und das ist nicht nur gut so, sondern richtig. Denn wenn Gegenstand der Geisteswissenschaften „Kultur“ in einem umfassenden Sinne als Produkt menschlichen Tuns ist, dann gehört hierzu die Reflexion der Geschichtlichkeit von „Kultur“ – und damit jeglicher Form von Wissenschaft einschließlich der Naturwissenschaften. Diese selbstverständliche Geschichtlichkeit ihrer Untersuchungsgegenstände stattet Geisteswissenschaftler mit einem geschärften Blick auf die Phänomene aus, der einer zeitgenössischen Analyse die notwendige historische Tiefenschärfe verleiht.

Das „F“-Banner bezieht sich auf das Motto der Freien Universität Foto: Bernd Wannenmacher

Dass wir ohne die historische Tiefenschärfe nicht nur Phänomene der Gegenwart falsch analysieren, sondern uns schlicht als Kulturnation aufgeben, haben die maßgeblichen Institutionen für Wissenschaftsförderung erkannt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft arbeitet seit Jahren daran, ihre Förderinstrumente an die Besonderheiten geisteswissenschaftlicher Forschung anzupassen. Sie hat mit der ersten Ausschreibung für „Kolleg-Forschergruppen“ in den Geisteswissenschaften ein neues Format entwickelt, dessen Zielsetzung sich weitestgehend mit dem neuen Programm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zur Einrichtung von „Internationalen Kollegs für geisteswissenschaftliche Forschung“ deckt. Beide Programme gehen auf Anregung des Wissenschaftsrates zurück und haben eine gemeinsame Grundstruktur: ein kleines Leitungsteam international renommierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ein Fellowship-Programm, mit dem die Verbindung zu ausländischen Forschungseinrichtungen und -schwerpunkten gestärkt werden soll, sowie die Schaffung von Freiräumen zur eigenen Forschung für die leitenden Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen.

Bereits im vergangenen Jahr haben die privaten Stiftungen – die Fritz Thyssen- und die VolkswagenStiftung in Zusammenarbeit mit der ZEIT-Stiftung und dem Stifterverband – unter dem Titel „Pro Geisteswissenschaften“ ein eigenes Förderprogramm aufgelegt. Es will mit den Dilthey-Fellowships herausragenden Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern und mit dem „Opus magnum“-Programm etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die notwendige Zeit zur eigenen Arbeit gewährleisten. Und schließlich wird durch das vom BMBF organisierte Jahr der Geisteswissenschaften dieser Fächergruppe in der Öffentlichkeit eine Aufmerksamkeit zuteil, wie sie die Geisteswissenschaften seit Jahrzehnten nicht mehr erfahren haben. Die Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin sind aufgrund ihrer bisherigen Leistungen glänzend aufgestellt, um auch im Wettbewerb um die neuen Fördermöglichkeiten erfolgreich zu sein. Nach dem letzten Ranking des „Times Higher Education Supplement“ (2006) liegen die Geisteswissenschaften der Freien Universität zwar „nur“ an 33. Stelle weltweit, damit aber an erster Stelle aller deutschen Universitäten – gefolgt von Heidelberg (52. Platz), der Humboldt-Universität (91.) und Bielefeld (95.). Auch im Förder-Ranking 2006 der Deutschen Forschungsgemeinschaft nehmen die Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin den Spitzenplatz ein, gefolgt von Tübingen, der LMU München, Münster, Frankfurt am Main, Köln und der Humboldt-Universität.

Eine Grundlage des Erfolgs der Geisteswissenschaften an der Freien Universität Berlin ist fraglos die Vielfalt geisteswissenschaftlicher Einzeldisziplinen, die es so nur noch an sehr wenigen anderen Universitäten im deutschsprachigen Raum gibt. Um diese Vielfalt auch künftig zu gewährleisten, mussten im Rahmen der vom Land Berlin auferlegten Kürzungen die großen geisteswissenschaftlichen Fächer überdurchschnittlich starke Einschnitte hinnehmen, was nicht immer konfliktfrei zu bewerkstelligen war. Genauso wenig wie die Tatsache, dass es im Berliner Raum auch hinsichtlich der „Kleinen Fächer“ zu gewissen Konzentrationen kommen musste.

Die zweite Grundlage für den Erfolg der Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin ist eine Berufungspolitik, die bereits in den 1980er-Jahren eingeleitet und in den 1990er-Jahren intensiviert wurde, die darauf abzielt, auch und gerade in den Geisteswissenschaften herausragende Fachvertreter für die Freie Universität Berlin zu gewinnen oder an ihr zu halten, indem man ihnen Arbeitsmöglichkeiten bietet, die konkurrenzfähig sind. Das seit 2003 amtierende Präsidium hat darüber hinaus eine stärker proaktive, die Bedürfnisse der Fachbereiche mit der strategischen Planung der Gesamtuniversität verzahnende Berufungspolitik etabliert. Auf diese Weise konnten eine Reihe herausragender Berufungen realisiert werden, die hoffen lassen, dass die Geisteswissenschaften auch künftig ihre Spitzenstellung innerhalb der Universität bewahren.

Um exzellente Geisteswissenschaftler zu gewinnen, hat die Freie Universität einen Vorteil, den sie nur mit der Humboldt-Universität teilen muss: den Standort Berlin. In keiner anderen deutschen Stadt, auch nicht in München, gibt es eine ähnliche Fülle kultureller Institutionen höchster Qualität von Museen über Theater, Opern, Konzerthäuser und Orchester, vielfältige außeruniversitäre Forschungseinrichtungen der unterschiedlichsten Art vom Deutschen Archäologischen Institut über die American Academy bis zum Wissenschaftskolleg, die die Zusammenarbeit mit der universitären Forschung wünschen und die für die Universität in ganz unterschiedlicher Weise überaus attraktive Partner darstellen.

Und schließlich haben die Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin mit der Gründung des Dahlem Humanities Center, das nach einer Vorbereitungsphase in diesem Sommersemester seine Arbeit aufnimmt, eine Organisationsstruktur erhalten, die in Deutschland einmalig ist. Sie orientiert sich an analogen Einrichtungen amerikanischer Spitzenuniversitäten, mit denen bereits Kooperationsabkommen geschlossen wurden oder in Vorbereitung sind. Ziel des Dahlem Humanities Center ist es, exzellente Forschung zu bündeln und im regionalen, nationalen und internationalen Raum zu vernetzen, um die bereits hohe internationale Sichtbarkeit der geisteswissenschaftlichen Forschung der Freien Universität weiter zu steigern. Wenn uns dies gelingt, dann sollte sich zumindest hinsichtlich der Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin die Rede von der „Krise der Geisteswissenschaften“ ganz von selbst erledigen. Erledigen sollten sich in einer weiteren Perspektive aber auch alle Versuche, von den Geisteswissenschaften – und nur von diesen – beständig kurzschlüssige Zweckrationalität einzufordern. Die Geisteswissenschaften sind der einzige Ort, an dem eine Gesellschaft über die Bedingungen der Möglichkeit und Notwendigkeit von Kultur jenseits einer gleichfalls notwendigen Zweckrationalität reflektiert – schon deshalb sind sie unverzichtbar.

Der Autor ist Professor für Romanistik an der Freien Universität Berlin und seit 2003 als Erster Vizepräsident für den Bereich der Geisteswissenschaften zuständig.