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Dimensionen des Korans

Text, Klang und Schriftbild ermöglichen einen neuen Zugang zur Heiligen Schrift des Islam

Von Angelika Neuwirth

Es wird von Muslimen oft beklagt, dass der westlichen Koranforschung der Sinn für die transzendente Dimension des Korans fehle, dass sie sich seiner übernatürlichen Aura verschließe. In der Tat steht der westliche Leser dem Koran angesichts des Fehlens jeder chronologischen oder theologischen Stringenz oft hilflos gegenüber. Die früh erfolgte Kodifizierung des Textes hat anders als im Fall der hebräischen Bibel oder des Neuen Testaments kein kontinuierlich lesbares Buch, sondern ein „Lektionar“ hervorgebracht, eine unzusammenhängende Textsammlung, aus der Texte zur liturgischen Rezitation ausgewählt werden können. Der Koran selbst insistiert deutlich auf seiner liturgischen Funktion und zugleich auf seiner engen Zusammengehörigkeit mit den anderen Heiligen Schriften. Zahllose Verse sprechen von „der Schrift“, al-kitab, oder „den Schriften“, al-kutub, anderer Religionen, einer Kategorie, der sich der Koran am Ende der Entwicklung ebenfalls zurechnet. Ein in der Religionsgeschichte einzigartiger Fall von Heiliger Schrift, die sich durch Selbstzeugnis als solche ausweist.

Allerdings darf man sich diese im Koran entworfene Schriftgemeinschaft nicht als ein fortbestehendes Angebot zu gleichrangiger Koexistenz vorstellen. Trotz der im Text attestierten Betonung der Wesensgleichheit mit den anderen Schriften gilt der Koran in der islamischen Theologie als die alle anderen Schriften vervollkommnende letztgültige Schrift. Zwischen der Aussage des Korantextes und seiner späteren Deutung liegt der Einschnitt der sich nach dem Tod Muhammads vollendenden Kanonisierung, die eine Wandlung in der Wahrnehmung des Korans bewirkt: Aus der dialogischen Rede des Korans, dem Religionsgespräch mit anderen und über andere, ist ein göttlicher Monolog geworden. Und umgekehrt: Der Koran gilt nach seiner Loslösung von dem Vermittler Muhammad so sehr als Verkörperung göttlicher Rede, dass man sogar vom Koran als einer „Inlibration“, einer Buchwerdung, des Gotteswortes analog zur Inkarnation gesprochen hat. Doch kann die Kanonisierung des Textes in ihrer Wirkung kaum überschätzt werden. Kanonizität ist ja keine textimmanente Qualität, sondern bereits Resultat sozialer Anerkennung, die gerade religiösen Grundschriften eine anderswo ungekannte Autorität als Ausdruck gemeindlicher Identität verleiht. Die Kanonisierung gestaltet den Text gewissermaßen neu: von einem zeitbedingten Redeablauf zu einer Aufreihung von gleichermaßen zeitlosen Einzeltexten, die ohne Anfang und Ende gleichsam den Fluss der Ewigkeit abbilden. An die Stelle der historischen Entwicklung des Textes, wie sie sich unter den Augen des analytischen Koranlesers entfaltet, tritt ein Ursprungsmythos, der sie auf den Punkt bringt und dem Text fortan eine Erinnerungsdimension verleiht: Muhammads Erhalt der mündlich vermittelten Offenbarungen. Jede Koranrezitation ist vor allem Neu-Inszenierung dieses Offenbarungsereignisses.

Gottes Sprechen zu Muhammad und seiner Gemeinde steht damit im Mittelpunkt des islamischen Selbstverständnisses. Da das Sprechen Gottes als ein entscheidendes Hör-Erlebnis erinnert wird, bleibt das Erleben des Korans auch später vor allem ein akustisches Erleben. Mit Recht ist der Koran als Partitur bezeichnet worden, die zu ihrer Realisierung einer musikalischen, von einer Melodie unterlegten Umsetzung bedarf. Schon seit der Zeit der Urgemeinde hat der rezitierte Koran seinen eigentlichen Sitz im Leben im rituellen Gebet, das aus einer Reihe von kurzen, gestisch begleiteten Formeln und mehreren Koranrezitationen besteht. Der Beter tritt in dieser Zeremonie aus dem profanen OrtZeit-Rahmen heraus und in einen sakralen Zustand ein, der ihm imaginäre Gleichzeitigkeit zu allen Mitbetern und räumliche Nähe zum Zentralheiligtum herstellt. Dieser sakrale Rahmen öffnet den Raum für verschiedene Grade spiritueller Erfüllung. Die sich mit dem Rezitieren vollziehende geistlich-körperliche Vereinnahmung des Korans ist nicht zufällig mit dem Zu-sich-Nehmen der eucharistischen Gaben im christlichen Ritus verglichen worden.

Der Koran ist aber nicht nur diskursiv durch seinen Text und auditiv durch seine Rezitation, sondern auch als Schrift-Bild in der islamischen Kunst unübersehbar präsent. Das arabische Alphabet selbst ist im Koran bereits Thema: Eine große Zahl von Suren beginnen mit der Nennung eines Buchstabennamens oder mehrerer Namen, etwa sad oder alif-lam-mim. Auch die himmlischen Schreibrequisiten, das Schreibrohr und die Schreibtafel, beginnen im Koran etwa seit der Mitte der mekkanischen Aktivität Muhammads eine auffallende Rolle zu spielen, in einer Phase der Neuorientierung der Gemeinde hin zu einem von der Schrift getragenen, biblischen Selbstverständnis. Der Akt des Schreibens spielt nun eine wichtige Rolle, es ist die Phase, in der die Verkündigungen erstmals niedergeschrieben werden. Schrift ist das Emblem der älteren Religionen, der später als „Schriftbesitzer“ bezeichneten Juden und Christen. Deren Offenbarungen verdanken ihre Autorität in koranischer Sicht ihrer Schrift-Bezogenheit, denn sie sind – wie auch der entstehende Koran – Exzerpte aus der himmlischen Urschrift, bildlich gesprochen: der „wohlbewahrten Tafel“, al lawh al-mahfuz. Schrift überschreitet in dieser Perspektive ihre Funktionalität als Zeichensystem: Ein transzendentes Universum aus Buchstabenzeichen, die ihre Bedeutung aus ihrer übernatürlichen Schönheit, ihrem Glanz beziehen, korrespondiert mit der irdisch wahrnehmbaren Schrift aus semantisch funktionalen Zeichen und verleiht diesen eine anderswo unbekannte Aura. Denn dem Koran zufolge sind nicht nur die Buchstaben oder die Koranverse, sondern alle erschaffenen Dinge „Zeichen“, ayat, Gottes. Diese Zeichen werden im Koran narrativ entfaltet, sie erhalten so eine sprachliche und gleichzeitig eine schriftliche Kodierung. Ohne diese Kodierung wären die Dinge problemlos figürlich darstellbar, angesichts ihrer Verankerung in der himmlischen Schrift nehmen sie jedoch die Form eines Schrift-Bildes an. Diese Doppelfunktion der Schrift von Zeichensystem und Bild bleibt eine Konstante bis zur Emanzipation der Künste aus dem religiösen Diskurs zum Ende des 19. Jahrhunderts. Wie kann man dieser Mehrdimensionalität des Korans, die sich aus seinem Transzendenz-Anspruch entwickelt hat, als kritischer Forscher gerecht werden? Traditionell islamische und westlich-kritische Lektüre des Korans können gewiss am ehesten in der gemeinsamen Wahrnehmung des Außerordentlichen, des Erstaunlichen und Innovativen an der Koranentstehung zusammengeführt werden. Die islamische Tradition hat diese Entstehung als wunderbar und nur übernatürlich erklärbar empfunden. Das Angebot der kritischen Forschung könnte in der Demonstration bestehen, dass sich Wunderbares oder doch revolutionär Innovatives auch historisch ausmachen lässt.

Da die transzendente Seite der Offenbarung für den Historiker nicht erfassbar ist, sind wir auf ihre diesseitige, sprachliche Repräsentation angewiesen. Zutreffend ließe sich beim Koran im Augenblick der Entstehung von einem Drama sprechen, das sich zwischen der sich herausbildenden Gemeinde und ihrer Umwelt abspielt und das sich in den vom Propheten in Sprache gefassten koranischen Texten reflektiert. Gewiss, formal ist der Koran fast durchgehend die Rede eines göttlichen Ich oder Wir an ein Propheten-Du, aber wie bei einem mitgehörten Telefongespräch ist aus der einzig vernehmbaren Sprecher-Rede auch hier unschwer die Situation herauszuhören, in die hinein gesprochen wird. Zieht man alle an diesem koranischen Drama beteiligten Akteure in Betracht, so ist der Text vielstimmig, denn neben dem Angesprochenen-Sprecher Muhammad werden Gruppen und Individuen von Hörern im Text als präsent vorgestellt oder in Abwesenheit besprochen. Diese Personen und Gruppen sind ihrerseits in Debatten involviert, die im Text stillschweigend vorausgesetzt werden, ohne deren Kenntnisnahme uns aber das Novum der koranischen Position verborgen bleibt. Das Aufspüren der kreativen Innovation, der revolutionären Neudeutung bei der Herausbildung eines neuen postbiblischen Paradigmas, und nicht zuletzt der dabei mit Klang und Schrift eingesetzten ästhetischen Strategien, dürfte das wichtigste Desiderat der jetzt geforderten neuen Koranwissenschaft zu sein.

Die Autorin ist Professorin am Seminar für Semitistik und Arabistik der Freien Universität Berlin.