Springe direkt zu Inhalt

Der Flug der Insekten

Wie Heuschrecken ihre Energiezufuhr steuern

ENERGIE Beiträge aus der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „fundiert“

Von Hans-Joachim Pflüger

Wenn der Körper Energie verbraucht, muss er sie aus der Nahrung zurückgewinnen. Fliegenden Insekten geht es da nicht anders als uns Menschen, gehört das Fliegen doch zu den Tätigkeiten, die am meisten Energie verbrauchen. Dies gilt vor allem für Wanderheuschrecken, die in fliegenden Schwärmen Hunderte von Kilometern zurücklegen.

Das Muskelsystem der Insekten und das damit verbundene Nervensystem ähneln in Aufbau und Funktionsweise denen der Wirbeltiere. Neurone empfangen Sinnesmeldungen, verarbeiten diese und geben Befehle weiter, zum Beispiel an die Skelettmuskeln, die auch bei Insekten aus zusammenziehbaren (kontraktilen) Eiweißmolekülen aufgebaut sind. Die Skelettmuskeln werden von bestimmten Motoneuronen, also Nervenzellen, mit elektrischen Impulsen versorgt, und je nach Typ erzeugen diese Motoneurone langsamere oder schnellere Muskelkontraktion.

Als Überträgerstoff, der Informationen von einer Nervenzelle zur anderen überträgt, nutzen Insekten Glutamat. Zusätzlich sorgt ein Überträgerstoff namens Octopamin als Neuromodulator dafür, dass eine bestimmte Muskelkontraktion in ihrer Stärke verändert wird, wenn der Überträgerstoff des Motoneurons und der Neuromodulator gleichzeitig freigesetzt werden. Diese Plastizität ist dann wichtig, wenn das Insekt statt ruhig zu sitzen sehr schnell aufeinander folgende Muskelkontraktionen ausführen muss – etwa beim Flug.

Bei Insekten kann der Forscher mit feinen Glas-Mikroelektroden die Aktivitäten von einzelnen Neuronen in den Zellen ableiten und gleichzeitig ihre Struktur sichtbar machen: Man spritzt dafür einen Farbstoff in den motorischen Nerv und kann so die Zahl und Lage derjenigen Neurone feststellen, die einen bestimmten Muskel versorgen. Oder man setzt zusätzlich Antikörper gegen bestimmte Überträger- oder Neuromodulatorstoffe ein und kann dadurch die entsprechenden Neurone ausfindig machen. Beide Methoden zeigten in unserer Arbeit den gewünschten Erfolg: Wir konnten die Lage der neuromodulatorischen Neurone, die den Botenstoff Octopamin enthalten, in den Brustganglien sichtbar machen, kartieren und ihre Aktivitäten mittels Glas-Mikroelektroden aufzeichnen.

Die Ergebnisse waren überraschend: Erstens werden die neuromodulatorischen Neuronen immer parallel zu den Motoneuronen angesteuert und damit also immer abhängig von den motorischen Netzwerken. Zweitens ergab sich, dass bestimmte neuromodulatorische Neurone während motorischer Aktivität, beispielsweise des Fliegens, nicht nur aktiviert, sondern auch gehemmt werden – vor allem die neuromodulatorischen Neurone, die die Flugmuskeln versorgen.

Gerade in diesem Befund lag der Schlüssel für die Lösung der Frage, was die eigentliche Aufgabe der neuromodulatorischen Neurone ist. Denn der Stoff Octopamin löst im Muskelgewebe von Insekten eine Steigerung der Glykolyse aus, also einem Stoffwechselweg, der aus dem Abbau von Zuckern energiereiche Moleküle gewinnt. Da große Insekten – wie die Heuschrecken – ihre Energie aus dem Abbau von Fetten gewinnen, wäre der Abbau des Zuckers während einer langen Flugaktivität geradezu „kontraproduktiv“. Damit wäre erklärt, warum die Neurone, die den Zuckerstoffwechsel aktivieren, beim Flug der Wanderheuschrecken gehemmt werden. Möglicherweise sind diese neuromodulatorischen Neurone sogar direkt an der Umschaltung auf Fettstoffwechsel beteiligt.

Eine elektrophysiologische Ableitung individueller neuromodulatorischer Neurone zeigte darüber hinaus, dass sie auch aktiv waren, als die Insekten keine Flugaktivität zeigten. Durch diese Aktivität der neuromodulatorischen Neurone wird eine Signalsubstanz im Muskel angesammelt, die kurzfristig den Zuckerabbau massiv stimuliert. Die neuromodulatorischen Neurone der Wanderheuschrecken, die Impulse an die Flugmuskeln schicken, sorgen so für den großen Energiebedarf beim Start. Dies zeigt, dass biochemische Prozesse in den Zellen der Heuschrecke offenbar unter neuronaler Kontrolle stehen, was bisher nur für sehr wenige Prozesse des Stoffwechsels bekannt ist.

Der Autor ist Professor am Institut für Biologie der Freien Universität Berlin.