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Die Energie des Theaters

Regisseure der frühen Sowjetunion als Ingenieure einer „neuen Psychologie“

ENERGIE Beiträge aus der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „fundiert“

Von Barbara Gronau

Der großmütige Hahnreih
Dynamische Formen im Raum: „Der großmütige Hahnreih“, Moskau 1922.
Foto: Institut für Theaterwissenschaften

Wenn man von der „Energie“ des Darstellers spricht, heißt das, einen „Begriff zu verwenden, der tausend Missverständnisse hervorrufen kann“, mahnt der Theatermacher Eugenio Barba. Und obgleich jede Opernarie, jede Bewegungsetüde oder jeder Pinselstrich energetische Prozesse des Körpers zum Ausdruck bringen, stellt schon ihre Beschreibung die Wissenschaft vor große Schwierigkeiten. Wie lässt sich etwas versprachlichen oder theoretisieren, dass zwar bemerkt, aber nicht gewogen, gezählt oder fotografiert werden kann?

Die Frage nach der Energie des Theaters verweist ebenso auf die habituellen und technischen Parameter, die allen künstlerischen Produktionsvorgängen innewohnen. Ob die Darbietungen mit Verve oder mit Verhaltenheit, mit Dynamik oder mit „schicklicher Zurückhaltung“ vor das Publikum gebracht werden, hängt von den historisch und kulturell variierenden Diskursen über die Ökonomie des Körpers ab.

Als expliziter Verfechter eines Theaters der Energie kann der Theatermacher Wsewolod Meyerhold gelten, der zum Kreis der künstlerischen Avantgarden in der frühen Sowjetunion zählt. Sein Œuvre zeugt in beispielhafter Weise von der Erfindung eines energetischen Körperbildes, in dem Naturwissenschaft, Ökonomie und Theater unter dem „vitalen Pulsschlag“ der industriellen Massenproduktion zusammengeschlossen sind.

Schon in Lenins Pathosformel „Elektrifizierung + Sowjetmacht = Kommunismus“ wird der gesellschaftliche Fortschritt von der Ausstattung des riesigen Landes mit elektrischer Energie abhängig gemacht. Um das zum Teil feudalistisch produzierende Russland in kürzester Zeit in einen modernen Industriestaat umzuwandeln, ist nicht nur eine technisch-industrielle, sondern auch eine soziokulturelle Neuerfindung nötig – ein „neuer Mensch“ soll entstehen. Den Künstlern fällt dabei die Rolle zu, Konstrukteure eines „neuen Lebens“ und Ingenieure einer „neuen Psychologie“ zu sein.

Das von Meyerhold entwickelte System der Biomechanik umfasst Übungen und Vorschriften für Schauspieler, die „Schnelligkeit“ und „Effizienz“ in der Darstellung garantieren sollen. Ausgehend von Iwan Pawlows Studien zu den bedingten Nervenreflexen und dem von Frederick W. Taylor für die amerikanischen Ford-Werke entworfenen Scientific Management, entwickelte Meyerhold einen antipsychologischen Schauspielstil. An die Stelle der Einfühlungstaktiken von Erinnern, Durcharbeiten und Wiederverkörpern tritt das rhythmische Training von Muskelkraft und physischen Reflexen.

Jede Etüde besteht aus segmentierten Einzelbewegungen: Sprünge, Drehungen und Gewichtsverlagerungen werden nach Maßgabe eines zugrundeliegenden Rhythmus’ in ein dynamisches Kontinuum gebracht. Im Gegensatz zur Pose, bei der die Bewegung auf ihrem Höhepunkt gleichsam einfriert, arbeiten Meyerholds Darsteller an der Kreation eines permanenten Bewegungsflusses – am Schauspieler als Perpetuum mobile.

Indem Meyerhold die Energie des Dargestellten betont und ihren Zeichencharakter als verschiebbar erkennen lässt, dreht er das Prinzip literarischer Inhaltsästhetik zugunsten einer konstruktivistischen Gestaltung um. Hier steht seine Arbeit im Einklang mit der utopischen Setzung von Geschichte, wie sie die künstlerischen Avantgarden der 1920er-Jahre formulieren. Als Stalin Mitte der 1930er-Jahre den Status quo der Sowjetunion als „vollendeten Sozialismus“ deklariert, der ausschließlich in Formen des sozialistischen Realismus widergespiegelt werden darf, wird Meyerhold das utopische Potenzial seiner Kunst zum tödlichen Verhängnis: Der Regisseur wird im Februar 1940 vom sowjetischen Geheimdienst erschossen.

Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität.