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Leben in der Leblosigkeit

Auf den ersten Blick erscheint der Strand ziemlich unwirtlich. Dennoch bevölkern ihn Milliarden winzige Organismen

Von Oliver Trenkamp

Muschel am Strand
Dass es am Strand überhaupt Leben gibt, ist ganz erstaunlich. Die Tiere dort sind wahre Überlebenskünstler: So müssen sie besonders robust sein und den schwankenden Salzgehalt verkraften.
Foto: pixelio

Lebensfeindlicher könnte die fremde Welt kaum sein: Die Temperatur schwankt zwischen minus fünf Grad im Winter und mehr als 40 Grad im Sommer, an manchen Tagen stürzt sie ganz plötzlich um 18 Grad. Es ist trocken. Und wenn es einmal feucht ist, schwankt der Salzgehalt des Wassers. Pflanzen wachsen hier so gut wie gar nicht. Der Wind bläst übers Land und wirbelt alles durcheinander. Und doch hat sich hier ein Ökosystem entwickelt, bevölkert von Geschöpfen, die mit den widrigen Bedingungen kaum Probleme haben. Die Bewohner der unwirtlichen Welt heißen Kiefermündchen, Bärtierchen und Bauchhärling. Ihre Heimat nennen Wissenschaftler „Interstitial“ oder „Mesopsammon“, manche sagen auch „Sandlückensystem“. Was sich fremd anhört, meint einen Ort, den jeder Urlauber kennt: den Strand.

Millionen Deutsche machen sich in diesen Tagen wieder auf die Suche nach sonnigen, weißen Sandstränden. Milliarden Kleinstlebewesen sind schon da. Was für Urlauber die Schnappschuss-Kulisse ist, auf der sie ihre Badehandtücher ausbreiten, ist für Wissenschaftler eine Fundgrube der Arten. Denn zwischen den Sandkörnern wimmelt es von Organismen, die erst unter dem Mikroskop sichtbar werden: Nur den Bruchteil eines Millimeters misst das Bärtierchen, das auf den Sandkörnern hockt und sich von Bakterien und Pilzen ernährt. Auch Mini-Würmer kriechen zwischen den Körnern umher. Vergleichsweise groß, doch immer noch zu klein für das menschliche Auge, sind die Milben mit ihren anderthalb Millimetern. Sie sind auf der Suche nach Beute und verschlingen andere Tierchen.

„Es ist erstaunlich, dass es dort überhaupt Leben gibt“, sagt Thomas Bartolomaeus, Evolutionsbiologe und Professor an der Freien Universität. Die Tiere seien Spezialisten und Überlebenskünstler, die sich an die Bedingungen am Strand angepasst hätten – viele von ihnen sind länglich und schmal; viele haben Haftdrüsen, mit denen sie sich an den Sandkörnern festhalten. Sie müssen robust sein und den schwankenden Salzgehalt verkraften.

Doch ohne das Meer und das Grundwasser, das am Strand in der Regel nicht sehr tief liegt, könnten auch sie hier nur schwer überleben. „In ganz trockenem Sand gibt es keine Tiere“, sagt Bartolomaeus. Das Grundwasser sorgt für die nötige Feuchtigkeit. Das Meer ist allerdings der Hauptlieferant des Lebens: Es spült organisches Material an den Strand – Algen, Bakterien, totes Plankton. „Proteine werden eingetragen“, nennt es der Wissenschaftler. Mit einem einfachen Experiment kann jeder Urlauber das organische Material sichtbar machen: Sand in einen Eimer füllen, Leitungswasser dazugeben, umrühren – und dann zusehen, wie es schäumt. Je mehr Schaum sich bildet, desto mehr organisches Material ist im Sand enthalten.

Der Zoologe Adolf Remane entdeckte vor knapp 80 Jahren die Artenvielfalt im Strandboden. Er kam aus Halle, wo er den Uferboden der Saale untersucht hatte, nach Kiel und wiederholte seine Experimente am Strand. Er hatte allerdings nicht mit dem Ergebnis gerechnet: Die Artenvielfalt am Strand übertraf alle Erwartungen. Nach aktuellen Untersuchungen leben in einem Liter Sand etwa 10 000 Ein- und Mehrzeller verschiedener Stämme und Unterklassen. Doch warum interessiert sich die Wissenschaft noch heute für kleine bakterienfressende Lebensformen, die zwischen den Sandkörnern leben?

„Weil sie sehr, sehr alt sind und weil sie so klein sind“, sagt Thomas Bartolomaeus. Manche der Organismen gab es schon vor 500 Millionen Jahren. Zum Vergleich: Säugetiere, wie wir sie heute kennen, gibt es erst seit 200 Millionen Jahren. Die Kleinstlebewesen erlauben einen Blick in die Vergangenheit, durch den die Wissenschaftler die Evolution besser verstehen wollen: Anhand der Tiere lässt sich ein evolutionärer Vorgang beschreiben, der anders verläuft als das, was sich Laien unter Entwicklung und Anpassung vorstellen.

Die Wissenschaftler nennen ihn „Progenese“. Viele Strandlückentiere haben Verwandte, die jeder kennt: den Regenwurm zum Beispiel oder manche Krebsart. Im Sandlückensystem findet man sie allerdings in einer viel kleineren Form, sie sind „verzwergt“. „Wir wissen: Einige der Arten waren nicht immer so klein. Wir beschäftigen uns also mit der Frage: Wie entsteht Kleinheit?“, sagt Bartolomaeus. Progenese verläuft nämlich nicht so, dass jede Generation immer kleiner wird und sich so an den Lebensraum anpasst. Vielmehr bilden sich die Geschlechtsorgane früher heraus, und die Tiere sind früher fähig, Nachkommen zu zeugen. „Ein ungewöhnlicher Evolutionsprozess, der uns eine Erklärung dafür liefert, wie solche extremen Lebensräume besiedelt werden“, sagt Bartolomaeus. Dieser Prozess habe aber offenbar häufiger stattgefunden als angenommen.

Die Forscher sind immer wieder erstaunt, wie klein manche Tiere sind und welche Organe sie mit nur wenigen Zellen entwickelt haben. „Man findet bei manchen Spezies funktionierende Nierenorgane, die nur aus drei Zellen bestehen“, sagt Bartolomaeus. Viele Strandbewohner haben Sinnesorgane herausgebildet, viele haben richtige Augen. Bartolomaeus erzählt eine Anekdote: Dänische Neurobiologen hätten theoretisch begründet, wie klein eine Nervenzelle höchstens sein dürfe. Die Erforschung der Kleinstlebewesen am Strand hätte diese Annahme aber sofort unterboten. So nähert sich die Wissenschaft der Frage: Was ist die minimale Ausstattung, um in der unwirtlichen Welt zu überleben? Aufschlussreich wird das vor allem im Hinblick auf den Klimawandel. Wie verändern sich die Tiere, wenn die Temperatur noch stärker schwankt und es mehr Stürme gibt?

Bis allerdings Forscher wie Thomas Bartolomaeus umfassend erklären können, was die Schlüsselfaktoren und die auslösenden Ereignisse für die Progenese sind, wird es dauern. „Um die Steuerung zu verstehen, müssen wir ein dichtes Informationsnetz spannen“, sagt er. „Das ist ein mühsames Verfahren.“ Je mehr Spezies untersucht werden, desto besser lassen sich Theorien überprüfen. Dafür nehmen Meeresbiologen mit Stechrohren Sandproben am Strand. Sie geben eine Flüssigkeit dazu, die die Organismen betäubt, damit sie sich nicht mehr an den Sandkörnern festhalten. Dann filtern sie die Tiere heraus und untersuchen sie unter dem Mikroskop, Details sind sogar nur unter dem Elektronenmikroskop zu erkennen.

So wird Bartolomaeus noch viele Reisen unternehmen in die fremde, unwirtliche Welt, die er nur mit Stechrohr und Mikroskop erkunden kann, die aber erklären kann, wie sich das Leben unter extremen Bedingungen entwickelt. Darauf freue er sich, sagt er – „spannender als jeden Meeresgrund und jedes Gebirge“, nennt er die Küste. „Es sind völlig unterschiedliche Lebensräume, die man durchschreitet“, sagt er, „und man muss dafür nur wenige Meter zurücklegen.“ Die Sommer-Urlauber werden den Strand genauso lieben, wahrscheinlich aber aus einem anderen Grund.