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Romanist mit Leidenschaft

Der erste Teil der Gesamtausgabe der Tagebücher von Victor Klemperer mit den Aufzeichnungen von 1933 bis 1945 ist als CD-ROM erschienen

Von Walter Nowojski und Jürgen Trabant

Victor Klemperer: LTI - Lingua Tertii Imperii
Eine akribische Analyse der menschenverachtenden Sprache der Nationalsozialisten legte  ictor Klemperer mit seinem Werk „LTI – Lingua Tertii Imperii“ vor.
Repro: Walter Nowojski

Vor Kurzem ist der erste Teil der Gesamtausgabe der Tagebücher Victor Klemperers, die Aufzeichnungen von 1933 bis 1945, als CD-ROM erschienen. Diese Ausgabe nutzt alle bislang kaum ausgeschöpften Möglichkeiten der elektronischen Erfassung und Verarbeitung von Texten und Abbildungen – ein herausragendes editorisches Ereignis. Im Unterschied zu der von Walter Nowojski bereits 1995 im Berliner Aufbau-Verlag herausgegebenen Druckversion liegt nun erstmals der vollständige Text der Tagebücher dieser Jahre vor. Der Herausgeber kollationierte dafür den um mehr als zwei Drittel erweiterten Text und bietet den „vollständigen Klemperer“. Der Nutzer hat die Möglichkeit, den Text durch einen Mausklick mit dem Faksimile zu vergleichen. So entstand ein unentbehrliches Standardwerk für Historiker, Geschichtslehrer und Interessierte an der jüngeren deutschen Geschichte. Die digitale Edition ist das Ergebnis eines von der Bosch-Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts, das Prof. Dr. Jürgen Trabant von der Freien Universität betreut.

Der deutsch-jüdische Romanist Victor Klemperer (1881 bis 1960), berühmt durch seine Analyse der Sprache des Dritten Reiches „LTI – Lingua Tertii Imperii“ ist seit dem Erscheinen seiner Tagebücher im Jahr 1995 weltbekannt.

Der Rabbinersohn kam mit den Eltern aus Landsberg a. d. Warthe nach Berlin. Sein Vater wurde Prediger der Berliner jüdischen Reformgemeinde und stand damit der Entwicklung seiner Söhne nicht mehr im Wege. Die ältesten Söhne, Georg und Felix, später berühmte Ärzte, und Berthold, später ein anerkannter Rechtsanwalt, lassen sich evangelisch taufen, um im Wilhelminischen Deutschland Karriere machen zu können. Und sie achten darauf, dass der „Nachzügler“, der spätgeborene Victor, es ihnen gleichtut. Mehrfach widersetzt sich der junge Victor; er verlässt das Französische Gymnasium, beginnt eine Kaufmannslehre, holt dann doch sein Abitur nach und beginnt, Germanistik und Romanistik zu studieren. Seine Dissertation bei Adolf Tobler bricht er ab; nun ist literarische Brotarbeit angesagt. Aber am Ende obsiegt die Gewissheit des Irrwegs. Sieben ganze Jahre sind vergangen, bis in dem jungen Publizisten der Gedanke reift, dass er Literarhistoriker, nur noch Literarhistoriker sein wolle und dass sein Nahziel die Promotion sei. Beim Münchner Germanisten Franz Muncker schließt er die Doktorarbeit mit dem Prädikat „Summa cum laude“ ab. Seine Habilitationsschrift bei dem Romanisten Karl Vossler, der zu seinem lebenslangen Lehrer wird, ist eine Montesquieu-Monographie in zwei Bänden.

Vom ersten Weltkrieg wird Klemperer als Lektor an der Universität Neapel überrascht. Er ringt mit sich, meldet sich dann freiwillig zum Kriegsdienst, um sein „Deutschtum“ zu beweisen. Die Strapazen an der französischen Front setzen ihm zu; er erkrankt schwer, kommt zunächst ins Lazarett und wird schließlich Zensor beim militärischen Kommando Ober-Ost. Die Novemberrevolution erlebt er in Wilna. Ein gefälschter Dienststempel des Wilnaer Soldatenrats ermöglicht dem Kriegsmüden, den Revolutionswirren zu entkommen.

„Millionen Menschen sind aus dem Weltkrieg als Ungläubige, als Revolutionäre, als Pazifisten und Weltbürger zurückgekehrt, andere (nicht ganz so viele) als Gottgläubige, als erbitterte Nationalisten; alle haben irgendein Dogma bewahrt oder gewonnen“, wird Victor Klemperer später bekennen. „Ich für meinen Teil habe nur den Zweifel heimgebracht, den absoluten Zweifel an jeder Position.“ Das Studium der französischen Aufklärung und die bitteren Erfahrungen haben in ihm einen skeptischen Rationalismus reifen lassen.

Er eilt nach München und brennt auf einen eigenen Lehrstuhl. Er muss lange warten. Es bedarf erst der energischen Fürsprache seines Lehrers Karl Vossler, um wenigstens an die Technische Hochschule nach Dresden zu gelangen. Die Universitäten bleiben ihm verschlossen. Nach Meinung der Drahtzieher bei Berufungsentscheidungen ist der wegen seines geschliffenen Stils als „Journalist“ geschmähte Klemperer, der außerdem „nur“ Literarhistoriker, kein solider Philologe, und obendrein noch Jude sei, in einer Technischen Hochschule auf dem richtigen Platz. So nutzt er die Zeit für die Veröffentlichung einer Vielzahl wissenschaftlicher Werke. Er beginnt die umfassende französische Literaturgeschichte, schreibt eine Pierre-Corneille- Monographie und publiziert mehrere Textausgaben mit Erläuterungen für Romanisten.

Die braune Gefahr, die am Horizont heraufziehende Katastrophe, erfasst Victor Klemperer frühzeitig seismographisch. Bereits 1924 geißelt er die „Hakenkreuzler“, und 1932 notiert er: „Hitler ante portas – oder was sonst? Und was wird aus mir, dem jüdischen Professor?“

Als Reichsstatthalter Mutschmann ihn 1935 aus dem Amt jagt, konzentriert er sich auf seine Arbeit. Dann trifft ihn das Verbot der Bibliotheksnutzung. Damit sind ihm alle wissenschaftlichen Studien verwehrt. Nun wird das Tagebuch sein wichtigster Arbeitsgegenstand. „In den Stunden des Ekels und der Hoffnungslosigkeit, in der endlosen Öde mechanischster Fabrikarbeit, an Kranken- und Sterbebetten, an Gräbern, in eigener Bedrängnis, in Momenten äußerster Schmach, bei physisch versagendem Herzen – immer half mir diese Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht – morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders: halte fest, wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt.“

In der Dresdner Bombennacht wagt er mit seiner nichtjüdischen Frau Eva, die ihm durch ihre Standhaftigkeit und Treue das Leben rettet, die Flucht, die bis nach Bayern führt.

Nach 1945, wieder zurückgekehrt nach Dresden, versucht Victor Klemperer ein Wiederanknüpfen an seine wissenschaftliche Arbeit und Universitätslaufbahn, gerät jedoch wegen seiner demokratischen Haltung sehr oft zwischen alle Stühle in der DDR.


ZUM INHALT

Victor Klemperer
Victor Klemperer
Foto: Peter Klemperer

Mehr als 100 Fotos und Dokumente

Die kommentierte Gesamtausgabe der Tagebücher Victor Klemperers von 1933 bis 1945 enthält neben dem erstmals dokumentarisch getreu übertragenen Text und dem kompletten Faksimile der Originalhandschaft:

  • einen umfangreichen Sachkommentar,
  • die Schicksale der mehr als 320 im Tagebuch genannten jüdischen Leidensgefährten,
  • genaue Nachweise über die Rolle von Victor Klemperers Kollegen der TH Dresden in der Zeit des Nationalsozialismus und über ihren weiteren Lebensweg,
  • eine lückenlose Chronik der Judenverfolgung in Dresden,
  • die Liste aller Dresdner „Judenhäuser“, in denen die Leidensgefährten bis zur Deportation zusammengepfercht wurden,
  • mehr als 100 Fotos und Dokumente.

Die CD-ROM ist als Jubiläumsband 150 in der „Digitalen Bibliothek“ von Directmedia Publishing GmbH erschienen. Sie kostet 45 Euro (ISBN 978-3-89853-550-2). FU