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Nachklang

Am 4. September jährt sich der 100. Todestag des norwegischen Komponisten Edvard Grieg

Von Michael Custodis

Wenn an markanten Todestagen an Komponisten erinnert wird, gilt die Aufmerksamkeit zum einen ihrem musikalischen Einfluss auf unsere Gegenwart, zum anderen dem allgemeinen Wissen zu ihrer Biografie. Im Fall von Edvard Grieg, dessen 100. Todestag am 4. September begangen wird, besteht eine Diskrepanz zwischen Kennen und Wissen: Dass beispielsweise seine „Morgenstimmung“ aus der ersten Peer-Gynt-Suite op. 46 als Klingelton für Mobiltelefone und Szenenmusik bei der Comic-Familie Simpson eingesetzt werden kann, belegt ihre Verselbstständigung zum kulturellen Allgemeingut. Bezeichnenderweise entstammen die meisten seiner berühmten Melodien den relativ wenigen Orchesterkompositionen und übersteigen mit ihrer Bekanntheit bei Weitem das Wissen über ihren Urheber und sein Schaffen in der Kammer- und vor allem der Klaviermusik.

Dieses Verhältnis war nicht immer so ungleich. Wenige Tage, nachdem der chronisch lungenkranke Edvard Grieg 1907 im Alter von 64 Jahren gestorben war, wurde er unter überwältigender Anteilnahme der Bevölkerung und politischer Würdenträger aus dem In- und Ausland in seiner norwegischen Heimatstadt Bergen zu Grabe getragen. Viele seiner Zeitgenossen verband dabei das Gefühl, das Ende einer Ära mitzuerleben: Kaum zwei Jahre zuvor war die glücklich erlangte Unabhängigkeit Norwegens von Schweden gefeiert worden, für die Grieg auf seinen Konzertreisen in Europa über Jahrzehnte um Sympathien geworben hatte. Unmittelbar nach der Jahrhundertwende hatten die beiden Staaten noch kurz vor einem militärischen Konflikt gestanden, der nur deshalb zu Verhandlungen führte, da er auf beiden Seiten als drohender Bruderkrieg empfunden worden war. So sehr sich Norwegen gerade auch durch Griegs Werke kulturell von Schweden hatte abgrenzen wollen, diente der Komponist zugleich dem dortigen Musikleben als Vorbild für eine eigenständige Nationalromantik. Daher trauerten nun, im September 1907, der noch junge norwegische Staat gemeinsam mit seinen Nachbarn um eine der bekanntesten Persönlichkeiten Skandinaviens.

Ein Blick aus heutiger Zeit zurück überspannt mehr als die Distanz von 100 Jahren und zeigt eine vergangene Welt, der die zivilisatorischen Katastrophen sowie die tiefgreifenden technischen und medialen Veränderungen, die unser Bild vom 20. Jahrhundert prägen, noch bevorstanden. Bis auf Annäherungen an impressionistische Klänge in seinen späten Klavierstücken blieb Grieg kompositorisch einer romantischen Harmonik verpflichtet, die er mit dem volksmusikalischen Kolorit seiner Heimat verband. Im Kontrast zu der von Igor Strawinsky, Arnold Schönberg und ihren Mitstreitern nach der Jahrhundertwende ausgelösten ästhetischen Aufbruchstimmung erscheint der Tod von Edvard Grieg daher als einer von vielen Endpunkten des musikalischen 19. Jahrhunderts.

Sich überkreuzende historische Entwicklungen auf diese Weise in Beziehung zu setzen, birgt aber gewisse Schwierigkeiten. Zum einen, da es Griegs Selbstempfinden nur bedingt entspricht: Seine im Nachlass in der öffentlichen Bibliothek in Bergen erhaltenen Tagebücher und Fachbücher sowie seine Korrespondenz belegen, dass er über musikalische Neuerungen durchaus informiert war und sich etwa während seiner letzten Konzertreise im April 1907 intensiv mit Richard Strauss und dessen Salome beschäftigte. Gedanklich fühlte er sich aber der Generation seines zehn Jahre älteren Freundes Johannes Brahms verbunden. Würden zum anderen bei einer Bewertung Griegs und seiner Musik die politischen, sozialen und kulturellen Zeitumstände ausgeblendet, erneuerte dies die ideologischen Vereinnahmungen und nationalistischen Vorurteile, die den Komponisten seit seinen ersten Erfolgen begleiteten.

Grieg hatte in vielen europäischen Ländern Freunde und Bewunderer, und da sich seine produktivste Schaffensphase auf das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts erstreckte, waren viele von ihnen einander nicht gewogen. Prototypisch verfolgen lässt sich dies an der Rezeptionsgeschichte seines Klavierkonzerts a-Moll op. 16 (uraufgeführt 1868 in Kopenhagen), über das noch heute zu lesen ist, es handele sich um eine Imitation von Robert Schumanns Konzert op. 54 in der gleichen Tonart. Grieg schätzte das Werk seines Idols aus Jugendzeiten sehr, welches er als 15-Jähriger in seinem ersten Leipziger Studienjahr 1858 sogar mit Clara Schumann als Solistin erlebt hatte. Dass eine Klassifizierung „Griegs Klavierkonzert = Schumann light“ aber primär auf deutsch-französischen Animositäten nach 1871 beruhte – bei denen Grieg wahlweise zum „Chopin des Nordens“ oder zum „germanischen Kleinmeister“ erklärt wurde – ist heute nicht mehr auf den ersten Blick kenntlich.

Es ist deshalb wenig hilfreich, unreflektiert diese Bewertung fortzuschreiben, da solche Ressentiments sonst nicht in der historiografischen Mottenkiste verschwinden. Glücklicherweise haben seine Stücke – und dies ist ein unbedingtes Qualitätskriterium der Griegschen Musik – solche „Intensivbehandlungen“ recht gut überstanden und werden bis heute vom Publikum geschätzt.

Während Griegs Musik als ein Endpunkt des 19. Jahrhunderts gedeutet werden kann, nahm seine Biografie Norwegens Entwicklung im 20. Jahrhundert idealtypisch vorweg. So sehr der Komponist von seiner Heimat zehrte, konnte er sich mit seiner Kunst doch nur im europäischen Kontext entfalten, und trotz der liebgewonnenen, bisweilen eigenwillig behaupteten Unabhängigkeit am nördlichen Rand Europas konnte sich Norwegen einer Integration in die wirtschaftlichen und kulturellen Kreisläufe des Kontinents nicht entziehen. Die Auswirkungen auf Griegs politisches Denken und Handeln zeigten sich besonders deutlich, als er entgegen seiner üblichen Zurückhaltung 1899 die französische Dreyfus-Affäre kommentierte. In einem offenen Brief, abgedruckt in mehreren europäischen Zeitungen, stellte er sich auf die Seite des verleumdeten jüdischen Offiziers und sagte alle Einladungen nach Frankreich ab. Ungeachtet der zeitweiligen Empörung von Kritik und Presse blieb seine Musik ein fester Bestandteil des französischen Konzertlebens.

Bei näherer Betrachtung erweist sich Griegs Musik als international einflussreicher, als seine Verklärung zur nationalen Kultfigur lange Zeit vermuten ließ. Wenn daher aus naheliegenden Gründen die Feier des 100. Todestages in seiner Heimat zu einem ganzen Edvard-Grieg- Jahr ausgedehnt wird, unterstreichen die weiteren Veranstaltungsschwerpunkte in Brasilien, Deutschland, Frankreich, Japan und Russland, wie Norwegen mit Edvard Grieg heute wahrgenommen werden möchte.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Musikwissenschaft der Freien Universität Berlin.