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Süchtig nach dem nächsten Klick

Kann das Internet abhängig machen? Wissenschaftler weltweit haben das Phänomen untersucht

Von Sabine Meixner

Das Internet hat für viele Menschen einen kaum mehr wegzudenkenden Platz in ihrem Alltagsleben eingenommen. 60 Prozent der Bevölkerung in Deutschland nutzt das Medium; unter Jugendlichen beträgt die Zahl der Online-User sogar fast 90 Prozent. Obwohl das Netz vielfältige Chancen bietet und Jugendliche beim Erwerb von Kompetenzen und in der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung unterstützen kann – etwa durch Ausprobieren neuer Rollen in Spielen oder Chats – wird seit Langem auch über mögliche negative Folgen diskutiert.

Beklagt wird dabei insbesondere eine ausufernde, exzessive oder gar suchtartige Nutzung. Berichte von Betroffenen erinnern mitunter an Probleme, wie sie bei Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen auftreten. Andererseits ist das Internet keine Droge, die körperliche Prozesse auslöst, welche unweigerlich zu einer Abhängigkeit führen. Zudem lässt sich seit Jahrhunderten beobachten, dass die Einführung neuer Medien stets Kontroversen über deren Risiken und insbesondere Warnungen vor möglichen Suchtpotenzialen nach sich zieht.

Inzwischen liegen weltweit Studien zum Phänomen „Internetsucht“ vor. Sie führten jedoch bislang zu keiner Einigkeit darüber, was hierunter genau verstanden werden soll. Die Wertung auch exzessiver Internetnutzung als Sucht ist dabei umstritten. Die gängigen psychiatrischen Diagnosen erkennen Störungen nur dann als Sucht- und Abhängigkeitserkrankung an, wenn sie durch bewusstseinsverändernde Substanzen verursacht werden. Andererseits hat ein extremer Internetgebrauch mitunter Folgen, die einzelnen Abhängigkeitskriterien zumindest sehr ähneln, zum Beispiel psychische Entzugserscheinungen, „Dosissteigerungen“ und Kontrollverlust. Insoweit lässt sich durchaus von einem suchtartigen Verhalten sprechen.

Eine Arbeitsgruppe am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie und Gesundheitspsychologie der Humboldt-Universität, in der die Autorin und Wissenschaftlerin der Freien Universität mitarbeitet, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Phänomen exzessiver Internetnutzung. Mit einem eigens entwickelten psychometrischen Instrumentarium wurde in einer Serie von Online-Studien mit über 17 000 Internetnutzern erstmals die Situation für Deutschland untersucht. Erfasst wurden fünf Kriterien: Erstens Kontrollverlust: Die Person hat die Kontrolle bezüglich Beginn und Ende ihrer Internetnutzung weitgehend verloren. Zweitens Toleranzentwicklung: Im Verlauf wird zunehmend mehr Zeit für Internetaktivitäten benötigt. Drittens Entzugserscheinungen: Bei längerer Unterbrechung der Internetnutzung treten psychische Beeinträchtigungen wie Nervosität, Gereiztheit oder Aggressivität und zunehmendes Verlangen zur Wiederaufnahme der Aktivitäten auf. Viertens negative soziale Folgen: Aufgrund der Internetaktivitäten stellen sich in sozialen Beziehungen Probleme ein. Fünftens negative Folgen in der Leistung: Es kommt zu Leistungseinbrüchen in der Schule oder im Beruf.

Mit diesen fünf Kriterien lässt sich Internetsucht als eine Verhaltensstörung im Sinne einer eskalierten Normalverhaltensweise definieren. Die Ergebnisse der Studien lassen indessen vermuten, dass das tatsächliche Ausmaß extremer Nutzung weniger dramatisch ist, als bis dahin angenommen: Nur etwa drei Prozent der erwachsenen Internetnutzer wurden als „süchtig“ klassifiziert. Bei Jugendlichengibt die Zahl von 17 Prozent für beide Geschlechter mehr Anlass zur Sorge, zu beachten ist jedoch, dass es sich lediglich um Online-Studien handelte. Jüngst wurde daher von der Arbeitsgruppe eine bundesweite Befragung von 5000 Schülern durchgeführt, die Aufschluss über Häufigkeiten, relevante Risikofaktoren und Zusammenhänge mit anderen Problemverhaltensweisen erbringen soll.

Die bisherigen Untersuchungen ergaben überdies, dass Betroffene ein besonderes Problemprofil aufweisen. Sie sind sozial ängstlicher und neigen zu Depressionen, leiden stärker unter mangelndem Selbstwertgefühl und erhöhter Stressbelastung. Zudem verfügen sie über geringe Fähigkeiten zu Problembewältigung und adäquater Verhaltensregulation. Von außen erhalten sie wenig soziale Unterstützung durch die Familie oder Gleichaltrige und erleben sich verstärkt als Opfer sozialer Konflikte. Insoweit scheint „Internetsucht“ auf eher unspezifischen psychischen Problemen zu basieren, die dann aber in einen Teufelskreis mit der Internetnutzung geraten. Viele Betroffene nutzen das Netz systematisch zur Ablenkung von Problemen, verstärken sie auf diese Weise.

Insofern sollten trotz der anscheinend geringen Fallzahlen die Risiken problematischer Internetnutzug nicht unterschätzt werden. Betroffene und deren Angehörige können Beratung und Hilfe in Suchtberatungsstellen oder in speziellen ambulanten Sprechstunden finden.

Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Freien Universität Berlin.