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Babylonische Entwirrung

Wie Altorientalisten Schülern von heute die Hochkultur des Zweistromlandes nahebringen

Von Ortrun Huber

„Edubba. Was fällt einem dazu ein …? – Gar nichts!“ Alessa Stephan ist zunächst ratlos, als sie die „Edubba“ betritt. Wie alle Schüler der achten Klassen des Goethe-Gymnasiums in Berlin-Wilmersdorf besucht sie die Keilschriftschule am Seminar für Altorientalische Philologie der Freien Universität Berlin. Für Alessa und ihre Mitschüler steht seit diesem Schuljahr Altgriechisch auf dem Stundenplan, die Geschichte und die Kultur des Alten Vorderen Orients sind ihr also schon ein bisschen vertraut. Doch was hat es mit der Keilschrift auf sich?

„Am Anfang der Schreibkunde steht der Keil – so lernten es schon die Schüler der ,Edubba‘ vor 4000 Jahren an ihrem ersten Schultag“, erklärt Eva Cancik- Kirschbaum, Professorin am Seminar für Altorientalische Philologie und Leiterin des Projekts. „Edubba“, das ist sumerisch und heißt „Tafelhaus“. Wie einst im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris können die Gymnasiasten von heute in der „Edubba“ die Wort- und Silbenzeichen der Keilschrift lernen. Und das funktioniert nicht etwa mit Papier und Bleistift: Feuchter Ton muss zu flachen Rundtafeln geformt werden. Aus Schilfrohr wird ein Griffel geschnitten – und dann geht es los: Durch leichten Druck und geschickte Drehung der Tafel sollen senkrechte, waagerechte und schräge Keile im Ton entstehen. Doch gerade am Anfang endet mancher Schreibversuch schnell als zerknautschter Klumpen in der Recycling-Kiste. „Wie soll man denn damit seinen Namen schreiben, ohne einen Nervenzusammenbruch zu erleiden?“, fragt Alessa. Die Antwort lautet: üben, üben, üben. Als die Achtklässler schließlich erste Erfolge verzeichnen, gehen sie zu Detailfragen über: „Wie werden doppelte Konsonanten in Keilschrift geschrieben?“, fragt jemand. „Einfach zweimal das halbe Zeichen aufmalen, oder wie?“

Eva Cancik-Kirschbaum macht sich den Eifer der Gymnasiasten zunutze. „Wo normalerweise Geschichte, Sprachen und Kulturen des Alten Orients erforscht und gelehrt werden, begegnen sich im Edubba-Projekt Vergangenheit und Gegenwart“, erklärt die Altertumsforscherin. Denn beim Eindrücken der Keilschriftzeichen in Ton erfolgt quasi nebenbei die Auseinandersetzung mit dem Material, der Technik und vor allem der Zeit, aus der diese entstammen. „Unser langfristiges Ziel ist es, Anreize zu fächerübergreifendem Fragen, Entdecken und Forschen zu geben. Denn vieles, was im Alten Orient erstmals gefunden und erprobt wurde, ist heute selbstverständlich.“

Im kommenden Schuljahr soll das „Edubba“-Projekt deshalb von der reinen Keilschrift-Schule zum jahrgangs- und fächerübergreifenden Schulprojekt expandieren. „Wir planen derzeit, das bereits bestehende Schriftmodul und ein weiteres Mathemodul auszuweiten, sodass das Wissen über den Vorderen Orient in alle Schulfächer integriert werden kann“, erklärt Eva Cancik-Kirschbaum. Auch das Vorderasiatische Museum, in dem zahlreiche Originalfunde aus Mesopotamien aufbewahrt werden, beteiligt sich an diesem Projekt. Von der fünften Klasse bis zur Oberstufe soll „Edubba“ dann die Schüler begleiten und auf Wunsch auch ins Abitur einfließen. Sieben Berliner Oberschulen haben sich bereits zum Mitmachen entschlossen. Im Rahmenplan der Schulen ist für diese zusätzlichen Inhalte noch Luft – da sind sich Pädagogen wie Wissenschaftler einig. Die benötigten finanziellen Mittel soll eine Förderung des Projekts bringen, die derzeit bei einer Stiftung beantragt wird. Allerdings sei ein besonderes, auch zeitliches Engagement der Gymnasiasten und Lehrer gefragt: „Manche Themen werden im Rahmen von Projekttagen oder auch mal nachmittags in Form eines Workshop am Institut behandelt“, sagt Eva Cancik-Kirschbaum.

Wie konkret das künftige „Edubba“- Konzept aussehen könnte, haben die Wissenschaftler des Instituts für Altorientalistik und das Lehrer-Kollegium des Goethe-Gymnasiums bereits im vergangenen März im Rahmen eines Studientages an der Freien Universität Berlin erarbeitet. Ob die Verfassung von Stadt oder Staat, die Erfindung der Schrift oder die Zeitrechnung von zwei mal zwölf Stunden: kaum ein Schulfach, in dem keine Bezüge zu den Traditionen des Alten Vorderen Orients gefunden werden könnten. So sei es denkbar, englische Reiseberichte über den Orient im Englischunterricht zu behandeln oder sich in Politischer Weltkunde mit Saddam Husseins Präsidentenpalast zu beschäftigen, der den Prachtbauten des sagenhaften Königs Nebukadnezar II. (604–562 v. Chr.) nachempfunden wurde, sagt die Projektleiterin: „Die schriftliche und materielle Überlieferung des Alten Orients umfasst weitaus mehr als Geschichte und Kunstgeschichte. Texte und Fundgegenstände geben Aufschluss über Mathematik, Religion, Geographie und sogar die Musik jener Zeit und bieten dadurch Möglichkeiten für zahlreiche Unterrichtsfächer.“

Auf anderen Pfaden nähern sich die Pennäler der Königin-Luise-Stiftung in Berlin-Dahlem dem Thema Vorderer Orient. Im Rahmen ihres Babel-Projekts bauen Schüler unterschiedlicher Alters- und Schulstufen aus Kartons einen „Turm zu Babel“. In jeder Schachtel sollen religiöse oder weltliche Symbole aus der babylonischen und der modernen Welt gezeigt werden, die das heutige Leben und Denken beeinflussen. „Im Spiegel der babylonischen Symbole versuchen wir unsere eigenen Symbole historisch zu verstehen, um kompetenter die religiösen, politischen und kulturellen Auseinandersetzungen zu führen“, erklärt Gymnasiallehrerin Eva Schenk, die das Projekt zusammen mit einer Kollegin in der Königin-Luise-Stiftung angestoßen hat. Zusätzlich erarbeiten Lerngruppen Vorträge rund um das Thema Babylon; denkbar sind etwa Vorlesungen mit dem Titel „Pythagoras und seine Folgen“ oder „Was darf ich und was darf ich nicht: Tora, Scharia und die zehn Gebote“.

Unterstützt wird die Schule dabei unter anderem durch das Kunsthistorische Institut, das Institut für Altorientalistik und das Institut für Vorderasiatische Archäologie der Freien Universität Berlin. „Besonders für unsere Oberstufe soll das Projekt neben der Auseinandersetzung mit dem Thema Babylon auch den Kontakt zu Fachbereichen der Hochschule öffnen, sodass die Schüler universitäres Wissen und Lernen möglichst früh kennenlernen“, erklärt Eva Schenk.

Auch Eva Cancik-Kirschbaum betont die Bedeutung dieser frühen Einblicke: „Durch die Begegnung mit der aktiven Forschung können wir das Interesse der Schüler für die in unserem Fachbereich ganz besondere Verbindung von Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften wecken.“ In der Begegnung mit Wissenschaftlern lernten die Pennäler zudem, Fragen mit neuen Lösungsstrategien anzugehen. „Die Verbindung von Fakten- analyse und Hypothesenbildung werden hier unmittelbar anschaulich“, so die Wissenschaftlerin.

Mit ihrem Projekt erfahren die Schüler aus Dahlem dabei nicht nur etwas über den Vorderen Orient, sondern entwickeln auch kompetitiven Ehrgeiz. Denn als eine von 20 ausgewählten Schulen in Berlin und Hessen ist die Königin- Luise-Stiftung mit ihrem „Babel-Projekt“ für den Wettbewerb „Was glaubst du denn?“ der Herbert-Quandt-Stiftung ausgewählt worden. Mit ihrem babylonischen Turm aus Pappkartons, der bis Pfingsten 2008 im Foyer der Königin-Luise-Stiftung entstehen soll, wollen die Berliner Schüler nicht nur in der Konkurrenz vorn liegen, sondern eventuell sogar ins Museum kommen. Denn im Sommer 2008 wird im Martin-Gropius- Bau eine große Sonderschau zahlreiche archäologische Objekte aus Babylonien dokumentieren und auch die Rezeption dieser alten Kultur in der europäischen Geistesgeschichte von der Spätantike bis ins 21. Jahrhundert zeigen. Mit dabei sind dann auf jeden Fall die Keilschriftexperten vom Institut für Altorientalistik – und vielleicht auch die Berliner Schüler der „Edubba“.