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Harry Potter – ein Phänomen der Superlative

VON HOGWARTS NACH REYKJAVIK Literatur im Fokus der Forschung

Worin das Geheimnis für den überwältigenden Erfolg Joanne K. Rowlings liegt

Von Gundel Mattenklott

Joanne K. Rowlings Geschichte über Harry Potter schlägt als globaler Bestseller alle Rekorde, egal ob sie Auflagen, Übersetzungen oder Geld betreffen. Die allgemeine Gier nach Superlativen selbst scheint den Erfolg des Werks immer höher zu treiben. Befriedigt wird diese Gier nicht nur durch die maßlose Wirkungsgeschichte, sondern auch durch das Buch selbst. Die gegenwärtige phantastische Kinder- und Jugendliteratur, deren Höhepunkt „Harry Potter“ in Qualität wie Wirkung darstellt, lebt von Superlativen. Das Böse ist darin stets das kaum noch imaginierbar Böseste überhaupt, seine Macht übersteigt (fast) alles, was wir uns vorstellen können, weil der absolute Wille zur Herrschaft und Grausamkeit mit uneingeschränkt wirksamer magischer Energie ausgestattet ist. Daher sind die Kämpfe gegen das Böse die schrecklichsten. Da es eigentlich unbesiegbar ist, müssen äußerste Mittel aufgewendet werden, um es zumindest kurzfristig außer Kraft zu setzen. Doch wie die Faszination, die die phantastische Literatur auslöst, in ihren Inszenierungen grenzenloser Überbietung begründet ist, so liegen darin auch ihre Schwächen.

In den letzten oder vorletzten Kämpfen gegen den schwarzen Lord, auf die jeder Harry-Potter-Band zusteuert, knallen uns die Zauberflüche um die Ohren, ihre Gewalt steigert sich in atemberaubender Geschwindigkeit, keine Rettung scheint mehr möglich. Und doch weiß selbst der naivste Leser, dass jede äußerste Todesgefahr für Harry abgewendet werden wird. Diese Kapitel sind meist die langweiligsten, trotz überraschender und rätselhafter Details. Im Film gehen sie vollends in der rasenden und monotonen Wiederholung unter, in Endlosschleifen splitternder Gläser und stürzender Mauern. Superlative lassen sich nicht überbieten. Die Kunst gerät an ihre Grenzen.

Die phantastische Kinderliteratur setzt daher die Strategie der Unterbietung ein als Gegengewicht zur Übermacht des Bösen. Sie folgt der Logik des Märchens, das den jüngsten einfältigen Sohn oder den verachteten Grindkopf den Sieg davontragen lässt. Wie viele Autoren vor und nach ihr schickt Joanne K. Rowling einen schmächtigen, verachteten Waisenjungen gegen Lord Voldemort. Kaum einer spielt jedoch im gesamten Handlungsgefüge so souverän auf der Klaviatur der Unterbietung wie sie. Neben die durch Wiederholung ermüdenden Kampfszenen und die unerträglichen Schmerzen, die im nächsten Augenblick bereits verwunden sind, setzt sie eine Vielzahl unscheinbarer Episoden und Requisiten, flüchtiger Spuren und Nebenbemerkungen, die uns noch nach mehreren Seiten oder Bänden aufhorchen und zurückblättern lassen. Viele verweisen auf die Lösungen der Rätsel, manche sind schlicht charmante Details, die die Atmosphären der Erzählung verdichten, ihre Farbigkeit und ihren Witz ausmachen, so die magischen Süßigkeiten, die Kramläden des Zaubererdorfs Hogsmeade und Figuren wie die Maulende Myrte, das Mädchengespenst vom kaputten Klo – prägnante und humorvoll gezeichnete Chiffren für kindliche und jugendliche Alltagsphantasien und -sorgen, die sich neben den besten Erfindungen der Kinderliteratur behaupten können. Ihren Sinn für Kinderkram und kleine Freuden teilt Joanne K. Rowling mit ihrem mächtigen Helden Albus Dumbledore. Auf ihrer Website findet sich die Zauberkarte des Monats. Im September war Dumbledore an der Reihe. Die Aufzählung seiner Heldentaten und größten Erfolge schließt mit der Bemerkung: „Dumbledore behauptete jedoch, er selbst sei vor allem stolz darauf, dass man ihn als berühmten Zauberer auf einer Schoko-Frosch-Sammelkarte verewigt hatte.“

Während die Effekte der Schlusssequenzen mit den ultimativen Duellen sich abnutzen und das Ende des siebten Bandes recht flau wirkt, ist Joanne K. Rowling eine unvergleichlich geschickte Meisterin der Anfänge. Der erste Satz des ersten Bandes verdient es, in die Liste großer Romananfänge der Weltliteratur aufgenommen zu werden: „Mr. und Mrs. Dursley im Ligusterweg Nummer 4 waren stolz darauf, ganz und gar normal zu sein, sehr stolz sogar.“ Sofort wissen wir, dass hier etwas nicht stimmt. Mitten im langweiligen Ambiente wird sich im Ligusterweg 4 bestimmt etwas Nicht-Normales verbergen. Auf der zweiten Seite studiert eine Katze eine Straßenkarte so beiläufig, dass Mr. Dursley sich zwingt, an eine Sinnestäuschung zu glauben – wir Leser haben sie aber auch bemerkt und sind schon gefangen. Wer könnte jetzt noch das Buch weglegen? Nach diesem unübertrefflichen Anfang gelingen der Autorin noch sechs weitere, die uns packen und in ihren überraschenden Variationen die zähe Spannung der Endkämpfe weit übertreffen.

Zwischen fulminanten Anfängen und sich in der Überbietung erschöpfenden Schlüssen spannt Joanne K. Rowling ein dichtes Netz von Lebensgeschichten. Sie alle sind verstrickt in eine Weltgeschichte, die unserer realen zum Verwechseln ähnelt. Abgesehen von weit zurückliegenden Epochen wie der Renaissance, in der Nicolas Flamel und seine alchimistischen Forschungen zum Stein der Weisen anzusiedeln wären, bildet das Jahr 1945 mit Dumbledores Sieg über den Magier Grindelwald, einen Geistesverwandten Voldemorts, den historischen Bezugspunkt, an dem sich implizit oder explizit alle neueren Ereignisse orientieren. Das Datum liefert die Themen, die die einzelnen Biografien ebenso prägen wie die politischen Konflikte: unersättliche Machtgier, Rassismus, Arroganz eingebildeter Eliten und Missachtung, gar Versklavung Fremder; aus all dem folgend eine Grauzone biografischer Brüche und Verwerfungen, in der zahlreiche Spielarten von Mitläufern, Doppelagenten, Verrätern und Wendehälsen agieren und in der selbst manche Lichtgestalt sich nur widerstrebend ihrer dunklen Vergangenheit stellt. Blinder Opportunismus, Verdacht und Verdrängung, Ressentiment und Schuldgefühl sind Emotionen, die unter der farbigen Zauberoberfläche schwelen und nicht nur Familien und Freundesgruppen, sondern die Gesellschaft insgesamt vergiften. Sie infizieren die junge Generation, spalten bereits die Peer-Gruppen der Elfjährigen. Skrupellose Medienvertreter säen weitere Zwietracht, verstärken Häme und Lügengespinste und kühlen ihr Mütchen an wehrlosen Außenseitern. Harry Potters Geschichte spiegelt bis hin zu Hermines gewerkschaftlichen Anstrengungen zur Emanzipation der Hauselfen und zu Dumbledores Europa-Entwurf in fantastischer Verfremdung unsere eigene Geschichte und Gesellschaft. Das zeichnet sie vor anderen fantastischen Kinder- und Jugendbüchern aus, die meist ein imaginäres, stereotypes Mittelalter als Schauplatz wählen.

Den zahlreichen ungelösten Lebenskonflikten und der Verdrängungsenergie, mit der der kleine und große Verrat, die Schuldverstrickungen und nicht zuletzt der Tod verschwiegen und geleugnet werden, begegnet die Erzählerin als Therapeutin und Analytikerin, die eine Lebenslüge nach der anderen behutsam freilegt und damit den Heilungsprozess vorantreibt. Erst wenn dieser Prozess vollzogen ist, kann der Blitz auf Harry Potters Stirn, das Zeichen der unverheilten Wunde, wirklich vernarben. (Zu Recht sollte der Roman eigentlich mit dem Wort „Narbe“ abschließen.) Bis dahin ist es allerdings ein langer Weg, dessen letzte unspektakuläre Phase im siebten Band mit den Siebenmeilenstiefeln der zeitraffenden Erzählung überflogen wird, damit wir bloß rasch das endliche „Alles war gut“ erreichen. Damit biegt Joanne K. Rowling ihren Roman ins Märchen zurück, das ebenfalls die großen ernsten Lebensthemen zum glücklichen Ende führt.

Die Autorin ist Professorin für Musisch-Ästhetische Erziehung an der Universität der Künste Berlin (UdK). 1990 habilitierte sie sich an der Freien Universität Berlin im Fach Erziehungswissenschaft und erhielt die venia legendi für Ästhetische Bildung.