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Universität gedenkt ermordeter Studenten

Ein Forschungsprojekt untersucht die Geschichte der Berliner Hochschulen in den Jahren der Teilung

Ins Gespräch vertieft: Brita Püschel und Lutz Utecht. Auch ihre Geschwister wurden ermordet. Foto: Bernd Wannenmacher

Ins Gespräch vertieft: Brita Püschel und Lutz Utecht. Auch ihre Geschwister wurden ermordet. Foto: Bernd Wannenmacher

Von Jochen Staadt

Brita Püschel ist eine gebrechliche Frau. Mehr als ein Jahrzehnt lang hatte die alte Dame ihren Wohnort Münster aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verlassen. Doch am 6. September dieses Jahres machte sie sich in Begleitung ihres Neffen auf den für sie beschwerlichen Weg nach Berlin. Sie wollte unbedingt an dem Festakt zur Erinnerung an die in der Sowjetunion hingerichteten zehn Studenten der Freien Universität Berlin und der Deutschen Hochschule für Politik teilnehmen – denn einer der in Moskau erschossenen Studenten war ihr Bruder Peter.

Das gegen ihn verhängte Todesurteil wurde von der sowjetischen Besatzungsmacht als Abschreckung schon 1951 bekanntgegeben. Die „Neue Zeitung“ schreibt am 31. Januar 1951: „Der 23-jährige Student der Berliner Hochschule für Politik, Peter Püschel, ist, wie erst jetzt bekannt wird, von einem sowjetischen Militärtribunal Ende Dezember 1950 zum Tode verurteilt worden, meldete das Informationsbüro West. Püschel, der aus Rostock nach West-Berlin geflüchtet war, ist Ende September vergangenen Jahres in der Nähe von Potsdam beim Verteilen von Flugblättern verhaftet worden.“

Es handelte sich dabei um Agitationsmaterial der exilrussischen Widerstandsorganisation NTS (Narodno-Trudowoj Sojus – „Nationaler Bund der Schaffenden“), die Püschel unter sowjetischen Soldaten verbreiten wollte. Er wurde am 24. September 1951 im Moskauer Butyrka-Gefängnis erschossen. Mehr als 50 Jahre später, im Oktober 2002, erhielt Brita Püschel per Einschreiben des Auswärtigen Amtes einen Rehabilitierungsbescheid aus Moskau. Die Militärhauptstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation hatte mit Beschluss vom 15. März 1999 das gegen ihren Bruder verhängte Todesurteil als Unrechtsmaßnahme aufgehoben.

Es war ein bewegender Moment, als Anna Thalbach während der akademischen Feierstunde am 6. September im Max-Kade-Auditorium der Freien Universität aus Brita Püschels Erinnerungen an ihren Bruder las. Die letzte Nachricht über ihn erhielt sie von einem Mitgefangenen aus der Haftanstalt Berlin-Hohenschönhausen: „Als Peter sich vor seinem Abtransport aus Berlin durch Klopfzeichen an der Wand der Nachbarzelle verabschiedete, geschah das mit dem Satz: ‚Auf Wiedersehen – in Moskau oder im Himmel …‘ Diese scheinbare, fast lächelnde Distanz zu seinem Schicksal kann sicher niemals über seine Todesangst hinwegtäuschen. Aber dass Peter, bevor er abgeführt wurde, das sagte, und das so sagen wollte, hat für mich nicht nur etwas Herzzerreißendes, sondern auch etwas Tröstliches. Durch die große innere Kraft und die alles überwindende Freiheit der Seele, die sich darin auftut. Ich weiß nicht, wie viel Grauen ihm noch bevorstand, bis er hingerichtet wurde, und ob er schließlich ganz daran zerbrach.“

Neben Brita Püschel nahmen zwölf weitere Angehörige der zehn hingerichteten Studenten an der feierlichen Enthüllung der von Volker Bartsch geschaffenen Skulptur „Perspektiven“ teil, die das Bankhaus Sal. Oppenheim der Universität gestiftet hat.

Die Schicksale von 42 Studenten der Freien Universität, die in den frühen fünfziger Jahren von sowjetischen Militärtribunalen oder DDR-Gerichten aus politischen Gründen zu Zwangsarbeit oder langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, wird derzeit im Rahmen eines Forschungsprojektes über die Berliner Universitäten und Hochschulen in den Jahren der Teilung untersucht. Die im Archiv der Freien Universität aufgefundenen Informationen über den Zeitpunkt und die Gründe der Festnahmen stammten zumeist vom Hörensagen oder direkt von Familienangehörigen.

Im heutigen Gebäude der Freien Universität Boltzmannstraße 3 arbeitete seit 1950 das „Amt für gesamtdeutsche Studentenfragen des Verbandes Deutscher Studentenschaften“ (VDS). Seine studentischen Mitarbeiter bemühten sich um die Aufklärung von Einzelschicksalen vermisster Kommilitonen und versuchten, eine damals nur in geringstem Umfang mögliche Rechtshilfe zu organisieren. Dietrich Spangenberg, der spätere Staatssekretär im Bundespräsidialamt und Berater Gustav Heinemanns, leitete das Amt für gesamtdeutsche Studentenfragen bis 1958. Die damals angelegte Dokumentation mit Briefen von Angehörigen und anderen Suchunterlagen werden jetzt von Mitarbeitern des Forschungsprojektes mit dem Archivgut des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, mit Akten des gesamtdeutschen Ministeriums, mit den im Bundesarchiv zugänglichen Überlieferungen der „Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit“ sowie mit den Karteien des Roten Kreuzes abgeglichen. Ziel ist es, von den noch lebenden Zeitzeugen Näheres über ihr damaliges politisches Engagement und ihre Haftzeit in der Sowjetunion oder der DDR zu erfahren.

Die Untersuchung über die Berliner Universitäten in den Jahren der Teilung ist an den zeitlichen Abläufen und politischen Zäsuren seit 1946 orientiert. In den Blick genommen werden die fundamentalen Unterschiede zwischen den West- und Ost-Berliner Wissenschaftseinrichtungen und die grenzüberschreitenden Diskurse zwischen akademischen Akteuren im geteilten Berlin. Denn trotz der politischen Teilung gab es über vier Jahrzehnte bis zur Wiedervereinigung ein permanentes Wechselspiel zwischen den Institutionen der freien Wissenschaft im Westen und den politisch indoktrinierten Lehreinrichtungen im Osten. Ost wie West definierten sich selbst durch den politischen Gegner, fürchteten Versuche der Unterwanderung. Ein Teil der Untersuchung behandelt das kulturelle, ideengeschichtliche und politische Beziehungsgeflecht, das Mauer und Stacheldraht zu überwinden half.

Im Zentrum stehen dabei die Freie Universität und die Humboldt-Universität, aber auch die Hochschule für Ökonomie Bruno Leuschner in Berlin-Karlshorst, die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch sowie Teilbereiche der Akademie der Wissenschaften der DDR sind einbezogen. Die Untersuchung wird von Mitarbeitern des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität in Kooperation mit Wissenschaftlern aus der Stasiunterlagenbehörde geführt. Erste Arbeitsergebnisse werden im kommenden Jahr veröffentlicht.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsverbund SED-Staat am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.