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Zeilen aus einer anderen Zeit

Wie deutsche Auswanderer im 19. Jahrhundert mit ihren Briefen aus den USA Geschichte schreiben

Arm sind sie und ungebildet, auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie flüchten vor Hunger, Verfolgung, Schulden. In Europa haben sie amEnde des 19. Jahrhunderts keine Zukunft, in Amerika wenigstens eine Chance: Zuwanderer aus der Alten Welt sind der Treibstoff für die Konjunktur der Vereinigten Staaten. Die US-Wirtschaft braucht billige Arbeitskräfte, um weiter wachsen zu können. Die Neuamerikaner schuften als Näherinnen und Fabrikarbeiter, als Prostituierte und Köche – oft schlecht bezahlt, häufig mehr als zwölf Stunden täglich.

Trotz der zum Teil katastrophalen Arbeitsbedingungen reißt der Zuwanderungsstrom nicht ab. Etwa 19 Millionen kommen im Laufe des 19. Jahrhunderts, bis 1924 ist die Zahl auf 36 Millionen angewachsen – allein aus Europa. Zwischen 1820 und 1914 siedeln fünf Millionen Deutsche über.

Für all die Neuankömmlinge gibt es nur einen Weg, den Kontakt zur alten Heimat zu halten: per Post. Den zurückgelassenen Familien in Europa berichten sie von ihren Träumen und Ängsten. Die Grammatik und Rechtschreibung dieser Auswandererbriefe ist so abenteuerlich wie ihre Geschichten und Eindrücke. „Ich bin ein Knecht geweßen 2 Monat in Newyork“, schreibt einer im Februar 1864, „dort habe ich die mehrsten Thränen geweint in meinen Leben.“ Eine andere wendet sich 1884 an eine daheimgebliebene Freundin: „Donnerwetter hab ich noch ganz vergessen zu erzählen was es hier für schöne Früchte in Kamerika giebt.“ Das orthografische Chaos ist ein historischer Schatz – die Auswandererbriefe sind für Wissenschaftler von heute höchst ergiebig. Spätestens seit den 1970er Jahren nämlich hat sich das Geschichtsverständnis umfassend gewandelt: Historiker interessieren sich nicht mehr nur für die Worte und Taten großer Männer, sondern auch für das Leben der einfachen Leute. Die haben allerdings selten Anlass gehabt, der Nachwelt etwas Schriftliches zu hinterlassen. In vielen Dokumenten und Archiven kommen einfache Menschen deshalb meist nur als statistische Größe vor.

Anders die Auswanderer: Viele schrieben regelmäßig über ihren Alltag in einer neuen Umgebung. „Der hohe Quellenwert von Auswandererbriefen, noch vor 30 Jahren kaum beachtet, ist heute unbestritten“, sagt Ursula Lehmkuhl, Professorin für die Geschichte Nordamerikas und Erste Vizepräsidentin der Freien Universität. Sie leitet ein Forschungsprojekt, in dessen Rahmen solche Briefe gesammelt, transkribiert und ausgewertet werden. „Sie sind nach wie vor neben den wenigen erhaltenen Tagebüchern die einzigen zeitgenössischen und tatsächlich subjektiven sozialgeschichtlichen Zeugnisse für die Prozesse der Auswanderungsentscheidung“, sagt Lehmkuhl.

In den 1980er Jahren entstand in Bochum die weltweit bedeutendste Sammlung von deutschen Auswandererbriefen. Sie umfasst gut 5000 veröffentlichte und etwa 7000 unveröffentlichte Briefe. Eine Schwäche: Nahezu alle Briefe stammen aus westdeutschen Gebieten. Als die Sammlung zustande kam, konnten die Wissenschaftler nicht in der DDR Briefe aufspüren. Ursula Lehmkuhl und ihr Team vom John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität haben das in Zusammenarbeit mit der Forschungsbibliothek Gotha nachgeholt. In einem „Neue-Länder-Projekt“ haben sie Briefe aus Amerika nach Ostdeutschland gesammelt und diese erschlossen. Senioren, die noch Sütterlin entziffern können, haben ehrenamtlich 4000 Briefe transkribiert, sodass sie hinterher digitalisiert werden konnten. Die Richtlinien waren streng: Sprachliche Besonderheiten, auch Rechtschreibfehler und krude Grammatik, sollten erhalten bleiben – nur so kann auch die sprachliche Entwicklung untersucht werden.

Darüber hinaus erforschen die Wissenschaftler, welche kommunikativen Funktionen die Auswandererbriefe haben. „Es ist ungeheuer spannend zu analysieren, wie der Familienzusammenhalt aufrechterhalten wurde“, sagt Ursula Lehmkuhl. Sie hat in vielen Briefen „eine Art Kaffee- und-Kuchen-Narrativ“ entdeckt: Die Auswanderer schreiben so, als würden sie sich von Angesicht zu Angesicht mit dem Adressaten unterhalten, als würden sie sich bei Kaffee und Kuchen gegenübersitzen.

Die Forschungsergebnisse werden nach und nach veröffentlicht. Noch lagern in der Sammlung der Auswandererbriefe viele Schätze, die darauf warten, geborgen und ausgewertet zu werden.

Oliver Trenkamp

Das Sammeln von Auswandererbriefen ist noch lange nicht abgeschlossen. Doch die Zeit drängt: Je länger man wartet, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Briefe verloren gehen. Wer Auswandererbriefe besitzt oder Hinweise geben kann, wendet sich bitte an die Forschungsbibliothek Gotha, Handschriftenabteilung, Nordamerika-Briefsammlung, Postfach 100130, 99851 Gotha. Weitere Informationen: www.auswandererbriefe.de

Wissenschaftsmagazin fundiert erschienen

Zwei riesige Kontinente auf 94 Seiten: Die aktuelle Ausgabe von „fundiert“, dem Wissenschaftsmagazin der Freien Universität, beschäftigt sich mit „Amerika, Amerikas“.

Wissenschaftler schreiben über die Geburtsstunde und die Taufe der Erdteile, sie sprechen über den schwärzesten Tag in der US-Geschichte, den 11. September 2001, und sie verraten, warum die Evangelikalen in den Vereinigten Staaten so viel Macht haben. Sie erklären den härtesten politischen Ausscheidungskampf der Welt: die Vorwahlen für den  Präsidentschaftswahlkampf. Und sie beschreiben, wie lateinamerikanische Emigranten ihre Familien im Süden ernähren, indem sie mehrere Millionen Dollar aus den USA in die Heimat überweisen.

Wissenschaftlich akkurat recherchieren, allgemeinverständlich erklären – das ist das Konzept von fundiert, das zwei Mal im Jahr erscheint. Jedes Heft hat ein Schwerpunkt-Thema, bisher beispielsweise: „Arbeit“, „Energie“ und „Sicherheit“. Der Artikel ist ein Textauszug aus dem Heft. bw

Bestellt werden kann das Heft kostenfrei unter: kommunikationsstelle@fu-berlin.de.