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Lehrstück für die Freiheit

Am 4. Dezember 1948 erfolgt im Steglitzer Titania-Palast die feierliche Gründung der Freien Universität.

Am 4. Dezember 1948 erfolgt im Steglitzer Titania-Palast die feierliche Gründung der Freien Universität.

Studenten protestieren 1948 gegen die Bildungspolitik der SED. Sie fordern eine freie Universität. Wenige Monate später ist es geschafft: Als Erster immatrikuliert sich Stanislaw Kubicki

von Oliver Trenkamp

Zu erzählen ist eine verworrene, abenteuerliche, politische  Geschichte. Sie lässt sich erzählen mit den großen Worten Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit. Es ist die Geschichte einer eingeschlossenen Stadt, abgeschnitten vom Rest der Welt; es ist die Geschichte einer Universität, die es eigentlich nicht geben dürfte. Walter Ulbricht kommt darin vor, das amerikanische Militär und Ernst Reuter.

Sie lässt sich aber auch anders erzählen, die Geschichte, ganz leise. Dann beginnt sie mit einem Medizinstudenten, der eine Münze in die Luft wirft.
Der Student heißt Stanislaw Karol Kubicki. Im Jahr 1948 ist er 22 Jahre alt und hat schon eine Menge Glück gehabt in seinem Leben. Er hat den Krieg überlebt und die russische Gefangenschaft. Er hat einen Studienplatz bekommen an der Berliner Universität Unter den Linden, die später den Namen Humboldts tragen wird. Ums Geld muss sich Kubicki keine  Sorgen machen: Sein Elternhaus hat den Krieg überstanden, mit Garten in Britz, dem Süden von Neukölln.
Kubicki hat  Freunde gefunden bei der Studentenzeitschrift  „Colloquium“, und er studiert mit einigem Erfolg Medizin. Das Fach begeistert ihn schon seit seinem 15. Lebensjahr, damals in den Sommerferien nahm ihn sein Schwager mit zu einer Vorlesung in Heidelberg. In Berlin verpasst er vom ersten Tag an keine Vorlesung.  Auch die ersten Prüfungen absolviert er  problemlos, besteht Vorphysikum und Physikum. Ihm hilft seine ungeheure Disziplin: „Vier Wochen vor einem Examen  zog ich mich immer zurück und ging wie ein Wahnsinniger das ganze Studium noch einmal durch.“ Eigentlich steht seiner Karriere nichts im Weg. 

Doch Kubicki hat auch schon viel Pech gehabt in seinem Leben, hat viel Leid erlebt. Seinen Vater erschoss die Gestapo,  weil er auf Seiten der polnischen Heimatarmee gekämpft hatte. Auch die Mutter engagierte sich im Widerstand gegen Hitler. Schon in jungen Jahren ist Kubicki  daher misstrauisch gegenüber jeder Ideologie. 
Als er nach einer vierwöchigen Lernphase im Frühjahr 1948 zurückkehrt von der Paukerei, sind drei seiner Freunde  zwangsexmatrikuliert worden und sollen  fortan nicht mehr studieren dürfen. In der Zeitschrift „Colloquium“ hatten sie gegen den Einfluss der SED an der Universität  protestiert und über die „Unbelehrbarkeit  der Herren von der Zentralverwaltung für Volksbildung“ geschrieben. „Da war in der Redaktion die Hölle los“, sagt Kubicki. „Ich komme dahin, um zu erzählen, dass ich mein Physikum bestanden habe – und auf einmal ist die Welt nicht mehr in Ordnung.  Aber eigentlich war sie vorher schon nicht in Ordnung.“ 
Denn schon vor dem Ausschluss der drei Studenten gab es in den sowjetisch besetzten Gebieten immer wieder Schikanen  und Verhaftungen. Man könnte sagen, Walter Ulbricht und seine SED versuchten, den Gleichschalter von rechts nach links umzulegen. „Die SED-Eingriffe waren denen in der NS-Zeit so ähnlich, wir haben es einfach nicht mehr ertragen“, sagt Kubicki. „Außerdem hätte ich damit rechnen müssen, ebenfalls der Uni verwiesen zu werden.“ 
Studenten wie er, die sich nicht anfreunden wollen mit der sowjet-roten Sicht auf Wissenschaft und Lehre, entwerfen  einen kühnen Plan: eine eigene, eine freie Universität zu gründen; natürlich im Westteil der Stadt, beschützt von den West-Alliierten. „Die Idee gab es  schon länger“ sagt Kubicki. „Aber jetzt versuchten wir es ernsthaft. Wir alle setzten unsere Zukunft aufs Spiel, wir wussten ja nicht, ob es klappt.“ 

Vieles spricht dagegen. West-Berlin  hat im Jahr 1948 andere Probleme als die Gründung einer neuen Universität. Im  Sommer drehen die Sowjets der Stadt  den Strom ab, in der Nacht vom 23. zum 24. Juni gehen die Lichter aus – Beginn der Berlin-Blockade. Amerikaner und Briten fliegen Kohle und Kartoffeln ein, Medikamente und Benzin – die Luftbrücke versorgt die Stadt. Wenn es nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit gegangen wäre, hätte es die Freie Universität nicht geben dürfen.
Doch die Studenten lassen sich nicht beirren. „An einen möglichen Abzug der Alliierten haben wir keinen Gedanken  verschwendet“, sagt Kubicki. Er und seine Kommilitonen schreiben Konzepte, demonstrieren mit 2000 Leuten im Hotel „Esplanade“, protestieren gegen die SED, diskutieren ihre eigenen  Pläne, treffen sich mit Wissenschaftlern und Politikern, besuchen den Oberbürgermeister von Berlin, Ernst Reuter. Sie  sprechen bei den Amerikanern vor – und  können sie überzeugen. Später wird sich der kulturpolitische Berater von General  Clay erinnern: „Sie traten mit großer Begeisterung  für ihre Idee ein.“ Die Studenten geben einfach nicht auf. „Wir waren nicht die einzigen, die für eine freie Universität  gekämpft haben“, sagt Kubicki, „aber wir waren die wahrscheinlich wichtigste Pressure-Group.“

Aus der Redaktion von „Colloquium“ geht schließlich der erste Allgemeine Studenten-  Ausschuss (AStA) hervor, noch bevor die Universität offiziell eröffnet ist. Kubicki wird Zuständiger für das Immatrikulationsverfahren.  Angewidert von den Fragebögen in der Sowjetzone, die die politische Gesinnung eines Bewerbers  ausforschen, und genervt vom  131-Fragen-Katalog der Amerikaner, entwirft Kubicki ein Formular, das mit nur sieben Fragen auskommt. Die Bewerber  sind erleichtert, die Amerikaner beeindruckt:  „Das Aufnahmeverfahren ist dafür gelobt worden, dass es mit den endlosen  Fragebögen, wie sie in der Ostzone ausgefüllt werden müssen, aufräumt, und soweit dieses Amt es feststellen konnte, ist der Auswahlvorgang bis jetzt korrekt und effizient durchgeführt worden“, notiert ein amerikanischer Offizier. Kubicki sieht das unkomplizierte Verfahren als „wertvollste Mitgift“. 
Dann kommt der Tag, an dem Kubicki  die Münze in die Luft wirft, einen Groschen.  Der Tag, der aus Kubicki den ersten  Studenten der Freien Universität  macht, den Studenten mit der Immatrikulationsnummer eins. Zusammen mit seinem  Kommilitonen Helmut Coper steht Kubicki vor den ersten beiden Universitätsgebäuden in der Boltzmannstraße 3 und 4 in Dahlem. Am Gartentor hängt ein Pappschild, schon ein wenig lädiert und eingerollt durch die Nässe. „Freie Universität,  Sekretariat“, steht darauf. Coper studiert wie Kubicki Medizin, hat für „Colloquium“ geschrieben, hat sich ebenso engagiert beim Aufbau der neuen Hochschule. Und auch er würde sich gerne als Erster eintragen. Also entscheidet die Münze – Kubicki gewinnt. 
Die ersten Monate an der Freien Universität sind ein stetiger Kampf gegen den Mangel. Die Studierenden tragen  ihre Stühle von Raum zu Raum – es gibt  einfach zu wenige. Die Möbel sind bunt zusammengewürfelt, sie stammen zum Teil von privaten Spendern. Die Mensa  verdient ihren Namen eigentlich nicht: In einer baufälligen Baracke in der Ihnestraße  gibt es fade Milchsuppe. Wer zu wenig Geld zum Leben hat, jobbt für eine Mark pro Stunde als Möbelpacker, klopft Teppiche, verlädt Zement oder, besonders begehrt, weil nicht so anstrengend, liest alten Damen vor. Es ist die Geburtsstunde  der „Heinzelmännchen“, der studentischen Arbeitsvermittlung. 

Offiziell eröffnet wird die Freie Universität im Dezember 1948 durch einen Festakt im Titania Palast – ein eigenes Auditorium  Maximum gibt es noch nicht. Die Institute sind über die ganze Stadt verteilt, manchmal hören die Studenten ihre  Vorlesungen im Kino. Kubicki findet vor allem die langen Wege anstrengend. Quer durch Berlin muss er ständig fahren, um von einer Lehrveranstaltung zur nächsten zu kommen. Mit dem „Irrenbus“ geht es von den Kliniken in Westend zur Nervenheilanstalt „Bonnies  Ranch“ nach Wittenau. Die Dermatologie  im Britzer Krankenhaus ist nur mit  der Straßenbahn zu erreichen, die Studierenden nennen sie „Gonokokkenschaukel“,  frei nach dem Tripper-Erreger. 
Kubicki schwärmt von der „Einheit der  Lernenden und Lehrenden“ zu jener Zeit. „Wir fühlten uns alle sehr  zusammengehörig“, sagt er. Sein Leben lang bleibt er seiner Hochschule treu. Er studiert, promoviert  hier, wird Professor für Neurologie, schließlich Leiter der Abteilung für Klinische Neurophysiologie, er befasst sich mit den Geheimnissen des Schlafens. Noch heute, 60 Jahre nachdem er mitgeholfen hat, die Freie Universität aufzubauen, kommt er regelmäßig zu Veranstaltungen. Derzeit arbeitet er mit an einer Buchreihe zu ihrer Geschichte – einer Geschichte, in der die Worte Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit nicht fehlen dürfen: Sie zieren das Wappen der Freien Universität.